Start Politik Deutschland Urteil in Musterverfahren: Keine Ghetto-Rente für Roma aus Serbien und Mazedonien

Urteil in Musterverfahren: Keine Ghetto-Rente für Roma aus Serbien und Mazedonien

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Laut einem vom Sozialgericht eingeholten historischen Gutachten gab es keine Ghettos für Angehörige der Volksgruppe der Roma in Serbien und Mazedonien während der NS-Besatzung. Die damals 6-10 Jahre alte Klägerin hat bereits deshalb keinen Anspruch gegen die Deutsche Rentenversicherung Bund auf Anerkennung der von ihr behaupteten Beitragszeiten und auf Zahlung einer Regelaltersrente nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).

Zum Hintergrund: Auch 74 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs hat das Sozialgericht Berlin über Rentenansprüche von Verfolgten der NS-Zeit zu entscheiden. Die Fälle sind geprägt durch die erschütternden Schicksale der Kläger und die Schwierigkeit, nach so langer Zeit das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen zu ermitteln. Gestritten wird insbesondere um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Arbeitszeiten in Ghettos Rentenansprüche gegen die Deutsche Rentenversicherung begründen.

Neben verfolgten Juden, deren Leidensgeschichte inzwischen gründlich dokumentiert ist, haben in den letzten Jahren auch Angehörige der Volksgruppe der Roma aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien Ansprüche wegen Ghetto-Beitragszeiten geltend gemacht. Die Rentenversicherung bestreitet, dass es in dieser Gegend überhaupt Ghettos im Sinne des Gesetzes gab. Vertreten durch eine Anwaltskanzlei haben deswegen rund 200 Personen Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben. Das vorliegende Urteil fiel im Rahmen eines Musterverfahrens zu diesem Themenkomplex nach Einholung eines historischen Sachverständigengutachtens.

Der Fall: Die 1934 geborene serbische Klägerin gehört zur Bevölkerungsgruppe der Roma. 2015 beantragte sie über ihren Bevollmächtigten die Gewährung einer Altersrente für ehemalige Ghetto-Beschäftigte mit Wohnsitz im Ausland. Sie gab an, sich zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zwischen April 1941 und September 1944 zwangsweise in der serbischen Ortschaft Smederevska Palanka aufgehalten zu haben. Sie sei dort vom deutschen Militär bewacht, ein Kontakt mit der übrigen Bevölkerung verhindert worden. Um nicht zu verhungern, habe sie, obwohl noch Kind, auf dem Feld gearbeitet und Vieh versorgt und dafür Lebensmittel erhalten. Erst nach Abzug der deutschen Soldaten habe sie in ihren Heimatort zurückkehren können.

2016 lehnte die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund den Antrag ab. Die Klägerin habe keine Arbeit während eines zwangsweisen Aufenthaltes in einem Ghetto ausgeübt. Es lägen keine Erkenntnisse vor, wonach in Serbien ein Ghetto für Sinti und Roma bestanden habe. Hiergegen erhob die Klägerin im Januar 2017 Klage vor dem Sozialgericht Berlin.

Das Urteil: Mit Urteil vom 15. Mai 2019 hat die 11. Kammer des Sozialgerichts Berlin (in der Besetzung mit einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen Richtern) die Klage nach mündlicher Verhandlung und persönlicher Befragung der zwei historischen Gutachter abgewiesen.

Voraussetzung für eine Regelaltersrente sei die Erfüllung der Wartezeit von 5 Jahren. Auf diese Wartezeit würden Zeiten angerechnet, für die Versicherungsbeiträge tatsächlich gezahlt wurden oder Zeiten, für die Beiträge als gezahlt gelten. Nach dem ZRBG (Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto) würden auch Beiträge für Beschäftigungszeiten von Verfolgten in einem Ghetto als gezahlt gelten. Die Klägerin könne jedoch keine entsprechenden Ghetto-Beitragszeiten geltend machen.

„Ghetto“ im Sinne des Gesetzes sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, der maßgeblich durch die hierzu ergangene Rechtsprechung ausgelegt wurde. Danach sei ein „Ghetto“ durch die drei Elemente der Absonderung, Konzentration und Internierung bestimmter Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet. Hingegen komme es nicht darauf an, was historisch unter einem Ghetto zu verstehen sei oder von der Besatzungsmacht als solches bezeichnet wurde.

Nach dem vom Gericht eingeholten historischen Sachverständigengutachten sei nicht nachgewiesen, dass die Lebensverhältnisse der Roma zu Zeiten der NS-Besatzung des heutigen Serbien und Mazedonien die Voraussetzungen für das Leben in einem Ghetto erfüllten. Sowohl die damals geltenden Verordnungen als auch die – aufgrund des Partisanenkriegs – chaotischen Besatzungsstrukturen würden demnach gegen eine Zusammenfassung der Bevölkerungsgruppe der Roma in Ghettos sprechen. Bereits früher auf dem Balkan vorhandene typische Armutsviertel der Roma würden nicht allein durch den nationalsozialistischen Einfluss zu einem Ghetto im Sinne des ZRBG.

Vor diesem Hintergrund könnten auch die von der Klägerin und anderen Betroffenen in den Parallelverfahren gemachten Angaben zu ihrem Verfolgungsschicksal die Existenz von Ghettos nicht belegen. Dies gelte umso mehr, als ihre Erklärungen weder in Einklang mit den historischen Fakten stünden noch eine persönliche und individuelle Wiedergabe erkennen ließen. Es sei vielmehr denkbar, dass der Klägerin und anderen Antragstellern vorgefertigte Erklärungen ohne Bezug zum individuellen Verfolgungsschicksal zur Unterschrift vorgelegt worden seien.

Angesichts dieser Umstände komme es im Ergebnis nicht mehr darauf an, dass auch erhebliche Zweifel an der für die Klägerin eingereichten Lebendbescheinigung bestünden, welche Voraussetzung für die Auszahlung einer Auslandsrente sei. Die Bescheinigung stamme von einer Einrichtung zur Interessenvertretung der Roma in Mazedonien mit Sitz in Skopje und damit nicht von einer Stelle, die berechtigt sei, Lebendbescheinigungen zu erstellen wie etwa der serbische Rentenversicherungsträger.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es kann von der Klägerin mit der Berufung zum Landessozialgericht Berlin-Brandenburg in Potsdam angefochten werden.

S 11 R 198/17 (Urteil vom 15. Mai 2019)

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