Start Allgemein Deka Investment GmbH gegen Volkswagen AG

Deka Investment GmbH gegen Volkswagen AG

438

Oberlandesgericht Braunschweig

3 Kap 1/16

In dem Kapitalanleger-Musterverfahren Deka Investment GmbH, vertreten durch den Geschäftsführer
Thomas Schneider und den Prokuristen Michael Windischmann,
Mainzer Landstraße 16, 60325 Frankfurt am Main,

Musterklägerin,

Verfahrensbevollmächtigte:
TILP Litigation Rechtsanwaltsgesellschaft mbH,
Einhornstraße 21, 72138 Kirchentellinsfurt b. Tübingen,

gegen

1.

Volkswagen AG, vertreten durch den Vorstand,
dieser vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Herbert Diess,
Berliner Ring 2, 38440 Wolfsburg,

Musterbeklagte zu 1),

Verfahrensbevollmächtigte:

a)

Rechtsanwälte Göhmann & Kollegen,
Ottmerstraße 1–2, 38102 Braunschweig,

b)

Schilling, Zutt & Anschütz Rechtsanwalts AG,
Otto-Beck-Straße 11, 68165 Mannheim

2.

Porsche Automobil Holding SE, vertreten durch den Vorstand,
dieser vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Hans Dieter Pötsch,
Porscheplatz 1, 70435 Stuttgart,

Musterbeklagte zu 2),

Verfahrensbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Hengeler Mueller,
Bockenheimer Landstraße 24, 60323 Frankfurt am Main,

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Jäde, den Richter am Oberlandesgericht Stephan und den Richter am Oberlandesgericht Dr. Hoffmann am 23. Oktober 2018 beschlossen:

1.

Die Anträge des Beigeladenen Heinrich Adam Loy vom 10. Juli 2017 auf Erweiterung des Kapitalanleger-Musterverfahrens um die dort aufgeführten weiteren Feststellungsziele werden zurückgewiesen.

2.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe:

I.

In den dem Musterverfahren zugrunde liegenden, beim Landgericht Braunschweig anhängigen Ausgangsverfahren machen die Kläger als Kapitalanleger gegen die Musterbeklagte zu 1) Schadensersatzansprüche wegen angeblicher Verletzung von Mitteilungspflichten über Insiderinformationen sowie angeblich fehlerhafter Finanzberichterstattung im Zusammenhang mit dem sog. VW-Abgasskandal geltend. Diese Ansprüche betreffende anspruchsbegründende oder anspruchsausschließende Voraussetzungen oder Rechtsfragen sind Gegenstand des Vorlagebeschlusses des Landgerichts Braunschweig vom 5. August 2016 – 5 OH 62/16 –.

Von diesem Vorlagebeschluss sind keine Schadensersatzansprüche aufgrund der Verwendung (behauptet) fehlerhafter Prospekte oder der fehlenden Richtigstellung von (behaupteten) Prospektfehlern von Anleihegläubigern von Tochtergesellschaften der Musterbeklagten zu 1) gegen die Musterbeklagte zu 1) aus c.i.c., Prospekthaftung im weiteren Sinne oder § 826 BGB erfasst.

Der Beigeladene Heinrich Adam Loy (Ausgangsverfahren Landgericht Braunschweig, Az. 5 O 520/16) begehrt die Erweiterung des Musterverfahrens um diese Ansprüche betreffende anspruchsbegründende oder anspruchsausschließende Voraussetzungen. Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten (Rechtsanwälte Schirp & Partner, Berlin) vom 10. Juli 2017 – zu Ziffer 5. berichtigt mit Schriftsatz vom 11. Juli 2017 – hat er folgende Erweiterungsanträge gemäß § 15 KapMuG gestellt:

1.

Der Prospekt zu den Anleihen der Volkswagen International Finance N.V. mit der WKN A1ZYTK / ISIN: XS1206541366 und mit der WKN A1ZYTJ / ISIN XS 1206540806 ist fehlerhaft, weil es darin heißt, dass die Automodelle der Volkswagen-Gruppe umweltfreundlich seien.

2.

Der Prospekt zu den Anleihen der Volkswagen International Finance N.V. zur WKN A1ZYTK / ISIN: XS 1206541366 und zur WKN A1ZYTJ / ISIN XS 1206540806 ist fehlerhaft, weil die wirtschaftliche Situation der Musterbeklagten zu positiv dargestellt wurde. Insbesondere ist fehlerhaft nicht darauf hingewiesen worden, dass die im Prospekt abgebildeten Ratings nur so positiv ausgefallen sind, weil sie auf falscher Grundlage erstellt wurden, da die Ratingagenturen nichts von den Manipulationen der Software durch die Musterbeklagte wussten. Zudem ist nicht darauf hingewiesen worden, dass die prospektierten historischen Finanzdaten der Musterbeklagten unvollständig und falsch sind, weil keine Rückstellungen im Zusammenhang mit den Manipulationen der Software durch die Musterbeklagte gebildet worden waren.

3.

Die Musterbeklagte hat pflichtwidrig und schuldhaft ihre vorvertraglichen Aufklärungspflichten gegenüber den Anleihegläubigern verletzt.

4.

Die Musterbeklagte ist potenzielle Haftungsschuldnerin gegenüber den Anleihegläubigern aus c.i.c., Prospekthaftung im weiteren Sinne, § 826 BGB.

5.

Sofern ein Schadenersatzanspruch aus c.i.c., Prospekthaftung im weiteren Sinne oder § 826 BGB bejaht wird, kann der Anleihegläubiger den Kursdifferenzschaden geltend machen. Dieser beläuft sich für die Anleihe WKN A1ZYTK / ISIN XS 1206541366 auf 18,05% des Nominalbetrags der von dem Anleihegläubiger erworbenen Anleihen, für die Anleihe WKN A1ZYTJ / ISIN XS 1206540806 auf 17,02 % des Nominalbetrags der von dem Anleihegläubiger erworbenen Anleihen.

Diesen Erweiterungsanträgen liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Volkswagen International Finance N.V. hat die Anleihen mit der WKN A1ZYTK / ISIN XS1206541366 und mit der WKN A1ZYTJ / ISIN XS 1206540806 begeben und für beide einen einheitlichen Prospekt herausgegeben. Die einzige Aktionärin der Emittentin ist die Volkswagen Finance Luxemburg S.A. (VFL), eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Musterbeklagten zu 1).

Der Beigeladene Loy vertritt die Ansicht, der Prospekt sei fehlerhaft. Er kläre insbesondere nicht darüber auf, dass die Musterbeklagte zu 1) seit Jahren die Software von Autos, insbesondere in den USA, manipuliert habe. Im Prospekt finde sich vielmehr die falsche Aussage, Automobile der Volkswagen-Gruppe seien umweltfreundlich. Für die Anleihegläubiger sei es wichtig gewesen zu wissen, dass die Musterbeklagte zu 1) die Software manipuliert habe. Daraus ergäben sich nämlich Risiken für die Bonität. Die wirtschaftliche Situation der Musterbeklagten zu 1) als Garantiegeberin sei folglich zu positiv dargestellt worden. Zudem sei nicht darauf hingewiesen worden, dass die historischen Finanzdaten der Musterbeklagten zu 1) auf Seite 134 ff. des Prospekts unvollständig und falsch seien. Die Daten bildeten nicht die tatsächliche wirtschaftliche Situation ab, weil die Musterbeklagte zu 1) eigentlich Rückstellungen im Zusammenhang mit den genannten Manipulationen der Software hätte bilden und darstellen müssen.

Der Beigeladene vertritt die Auffassung, die neuen Feststellungsziele ließen sich unter den weit gefassten Begriff des „gleichen Lebenssachverhalts“, wie er dem Vorlagebeschluss zugrunde liege, fassen. Für die Haftung der hiesigen Musterbeklagten zu 1) wegen der Fehlerhaftigkeit des Prospektes seien zwingend die Manipulationsvorwürfe zu klären. Die Manipulationsvorwürfe seien sowohl Gegenstand des Vorlagebeschlusses als auch des Erweiterungsantrages. Wenn nämlich die Manipulationsvorwürfe zutreffend seien, so seien die Automobilmodelle der Volkswagen-Gruppe im Prospekt auch unzutreffend als umweltfreundlich dargestellt worden (Feststellungsziel zu Ziffer 1). Gleichzeitig seien die im Prospekt abgebildeten Ratings falsch, wenn die Manipulationsvorwürfe, die Gegenstand des Vorlagebeschlusses sind, zutreffend seien. Aber auch die übrigen im Erweiterungsantrag geltend gemachten Feststellungsziele seien bereits im Sachverhalt angelegt.

Die Erweiterung des Musterverfahrens sei zwingend erforderlich, um den Normzweck des § 15 KapMuG zu erfüllen, nämlich die Gewährleistung, dass alle auf dem gleichen Sachverhalt beruhenden klärungsbedürftigen Fragen umfassend in ein und demselben Musterverfahren beantwortet werden könnten. Wenn die Anleihegläubiger der streitgegenständlichen Anleihen (bei denen die hiesige Musterbeklagte zu 1) als Garantin fungiere) im Hinblick auf die vorvertraglichen Schadensersatzansprüche gegen die Musterbeklagte zu 1) wegen der Prospektfehler ihrerseits Musterverfahrensanträge stellten, dann würde in dem zu eröffnenden Musterverfahren ebenso wie im hiesigen Musterverfahren über die Manipulationen durch die Musterbeklagte zu 1) zu entscheiden sein. Dann aber könne nicht ausgeschlossen werden, dass es in den beiden Verfahren zu divergierenden Entscheidungen komme. Das solle durch die Erweiterung des hiesigen Musterverfahrens vermieden werden.

II.

Das vorliegende Kapitalanleger-Musterverfahren ist nicht um die mit Schriftsatz des Beigeladenen Heinrich Adam Loy vom 10. Juli 2017 formulierten weiteren Feststellungsziele zu erweitern. Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 KapMuG liegen nicht vor.

1. Gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 2 KapMuG erweitert das Oberlandesgericht das Musterverfahren um weitere Feststellungsziele, soweit die Feststellungsziele den gleichen Lebenssachverhalt betreffen, der dem Vorlagebeschluss zugrunde liegt.

Der Lebenssachverhalt ist – wie der Senat bereits in den Beschlüssen vom 15. Juni 2018 und 15. August 2018 ausgeführt hat – in natürlicher Weise nach dem Kernpunkt der zugrundeliegenden Rechtsstreitigkeiten zu erfassen. Der Lebenssachverhalt ist dabei zwar weit zu verstehen, da das KapMuG dem Musterverfahren einen möglichst weiten Anwendungsbereich verschaffen will (Vollkommer, in: KK-KapMuG, 2. Aufl., § 6, Rn. 8; ebenfalls darauf abstellend LG Hannover, Vorlagebeschluss vom 13. April 2016 – 18 OH 2/16 –). Das weite Verständnis des Begriffs „einheitlicher Lebenssachverhalt“ kann allerdings nicht dazu führen, dass mit einem Erweiterungsantrag ein Sachverhalt in das Verfahren „hineingetragen“ wird, der nicht bereits in den Feststellungszielen des Vorlagebeschlusses oder der darin gemäß § 6 Abs. 3 Nr. 2 KapMuG enthaltenen Darstellung des den Musterverfahrensanträgen zugrunde liegenden gleichen Lebenssachverhalts angelegt ist. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KapMuG verlangt vielmehr einen Gleichlauf zwischen dem Vorlagebeschluss und der Erweiterung des Musterverfahrens (vgl. Vollkommer, in KK-KapMuG, 2. Aufl., § 15, Rn. 13, 15; Kruis, in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 15 KapMuG, Rn. 14).

2. Nach diesen Maßgaben betreffen die weiteren Feststellungsziele aus dem Schriftsatz vom 10.07.2017 nicht den gleichen Lebenssachverhalt, der dem Vorlagebeschluss zugrunde liegt.

a) Entscheidender Kernpunkt der dem hiesigen Musterverfahren zugrundeliegenden Rechtsstreitigkeiten ist das Geschehen bei der Musterbeklagten zu 1) im Zusammenhang mit der sogenannten „Dieselthematik“, insbesondere im Hinblick auf Insiderinformationen im Sinne von § 13 WpHG a. F.. Dieses Geschehen ist zugleich Ausgangspunkt der in dem ausgesetzten Verfahren des Beigeladenen Heinrich Adam Loy geltend gemachten Ansprüche wegen fehlender Richtigstellung (behauptet) fehlerhafter Prospektangaben. Ohne das Kerngeschehen bei der Musterbeklagten zu 1) im Zusammenhang mit dem „Dieselskandal“ wären auch Ansprüche aufgrund der unterlassenen Richtigstellung von hiermit im Zusammenhang stehenden Angaben in von Tochterunternehmen herausgegebenen Prospekten von vornherein ausgeschlossen.

Allein der Umstand, dass der Gegenstand eines weiteren Feststellungsziels seinen Ursprung in dem Kerngeschehen hat, das dem Vorlagebeschluss zugrunde liegt, es mit anderen Worten ohne das Kerngeschehen auch den Gegenstand der weiteren Feststellungsziele nicht gäbe, führt aber nicht dazu, dass stets von einem „einheitlichen Lebenssachverhalt“ auszugehen wäre. Entscheidend ist vielmehr, ob die weiteren Feststellungsziele als solche den durch den Vorlagebeschluss konkretisierten gleichen Lebenssachverhalt betreffen.

Dies ist hier nicht der Fall.

Die Feststellungsziele des Erweiterungsantrags betreffen einen andersartigen Informationsträger (nämlich einen Prospekt) eines anderen Emittenten (der Volkswagen International Finance N.V.) in Bezug auf ein anderes Finanzinstrument (nämlich Anleihen der Volkswagen International Finance N.V.). Die Verbindung der Musterbeklagten zu 1) zu dem Prospekt ergibt sich nur aus deren Eigenschaft als Garantiegeberin. Die Feststellungsziele sind vor diesem Hintergrund von den Fragen geprägt, ob bzw. inwieweit Umstände des Kerngeschehens bei der Musterbeklagten zu 1) in rechtlicher Hinsicht als relevante Fehler des von der Volkswagen International Finance N.V. herausgegebenen Prospekts zu bewerten sind sowie insbesondere ob aus der Eigenschaft als Garantiegeberin Ansprüche gegen die Musterbeklagte zu 1) aufgrund dieser etwaigen Prospektfehler (bzw. der unterlassenen Richtigstellung derselben) hergeleitet werden können. Diese Fragestellungen sind von den dem Vorlagebeschluss zugrunde liegenden Fragestellungen gänzlich verschieden. Auch die – mit dem Erweiterungsantrag zu Ziffer 5. begehrte – Berechnung des Kursdifferenzschadens ist eine andere als die, welche in Bezug auf Finanzinstrumente der Musterbeklagten zu 1) anzustellen wäre.

b) Die aus den vorstehenden Ausführungen folgende Auslegung des Begriffs des gleichen Lebenssachverhalts im Sinne des KapMuG trägt dem mit dem KapMuG verfolgten Ziel der Gewährung möglichst effektiven Rechtsschutzes (vgl. hierzu Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Einführung von Kapitalanleger-Musterverfahren, BT-Drs. 15/5091, S. 16) am besten Rechnung.

Den Beteiligten eines Musterverfahrens wird nämlich nicht per se dadurch effektiverer Rechtsschutz gewährt, dass möglichst alle nur irgendwie mit dem Kerngeschehen verknüpften Feststellungsziele in einem Kapitalanleger-Musterverfahren gebündelt werden. Dies zeigt im vorliegenden Fall die Perspektive des erheblichen Anteils der Beigeladenen, die Ansprüche allein aus dem unmittelbaren Kerngeschehen bei der Musterbeklagten zu 1) herleiten. Je mehr Fragestellungen über dieses Kerngeschehen hinaus abzuarbeiten sind, umso höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass sich hierdurch das Musterverfahren verzögert und ggf. auch höhere Kosten verursacht werden. In Bezug auf solche Beteiligten wird der Rechtschutz dadurch am effektivsten gestaltet, dass das Musterverfahren möglichst handhabbar bleibt und in möglichst angemessener Zeit abgeschlossen werden kann. Dem stünde die von dem Beigeladenen Loy vertretene Auslegung des Lebenssachverhaltsbegriffs entgegen. Danach könnten zahlreiche Prospekte und deren (sämtliche) Fehler Gegenstand dieses Musterverfahrens werden. Sämtliche Fehler eines Kapitalmarktinformationsträgers (z.B. eines Emissionsprospektes) betreffen nämlich denselben Lebenssachverhalt (so ausdrücklich die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von Kapitalanleger-Musterverfahren, BT-Drs. 15/5091, S. 49). Ebenso könnten nach diesem Verständnis sämtliche tatsächlichen und rechtlichen Fragestellungen in Bezug auf eine (etwaige) Haftung von Emittenten anderer Finanzinstrumente zum Gegenstand des hiesigen Musterverfahrens gemacht werden, solange diese nur ihren Ursprung in dem Kerngeschehen bei der Musterbeklagten zu 1) haben. Eine solche (potentielle) Überfrachtung eines Musterverfahrens entspricht – wie dargestellt – gerade nicht dem Zweck des KapMuG.

3. Das dargestellte Verständnis des „gleichen Lebenssachverhalts“ führt auch nicht dazu, dass die Gefahr divergierender Entscheidungen besteht, wenn Anleihegläubiger im Hinblick auf die vorvertraglichen Schadensersatzansprüche gegen die Musterbeklagte zu 1) wegen der Prospektfehler ein weiteres Musterverfahren anstrengen würden.

Die Ausgangsverfahren der Anleihegläubiger sind zutreffend gemäß § 8 KapMuG im Hinblick auf das hiesige Musterverfahren ausgesetzt. Das Musterverfahren ist auch für diese Verfahren vorgreiflich im Sinne des § 8 KapMuG. Vorgreiflichkeit liegt vor, wenn bei einer natürlichen Betrachtung der gleiche Lebenssachverhalt wie im Musterverfahren zur Entscheidung steht (Senat, Beschluss vom 15. Juni 2018 – 3 Kap 1/16 –; Kruis, KK-KapMuG, 2. Aufl., § 8, Rn. 30; Fullenkamp, in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 7, Rn. 7). Diese Voraussetzung ist auch dann erfüllt, wenn nur ein Teil des haftungsbegründenden Sachverhalts des Ausgangsverfahrens den gleichen Lebenssachverhalt betrifft wie das Musterverfahren. Liegt dem Musterverfahren mit anderen Worten ein Sachverhalt zugrunde, der Bestandteil der haftungsbegründenden Umstände des Ausgangsverfahrens ist, ist Vorgreiflichkeit i. S. d. § 8 Abs. 1 KapMuG anzunehmen. Dies hat zur Folge, dass die Ausgangsverfahren auszusetzen und die Prozessgerichte in diesen Verfahren gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 KapMuG an das Ergebnis des Musterverfahrens gebunden sind. Insoweit drohen weder widersprüchliche Entscheidungen noch eine doppelte Beweisaufnahme.

Hieraus folgt aber nicht zugleich, dass sämtliche für dieses Ausgangsverfahren relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen den gleichen Lebenssachverhalt betreffen müssen und deshalb (unter der Voraussetzung der sog. „Breitenwirkung“ gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 KapMuG) zulässiger Gegenstand eines Erweiterungsantrags gemäß § 15 KapMuG sein können. Zwar kann für solche Verfahren nach dem Wortlaut des § 7 KapMuG auch bei Vorliegen des erforderlichen Quorums kein weiteres Musterverfahren angestrengt werden. Gemäß § 7 KapMuG ist mit Erlass eines Vorlagebeschlusses nämlich die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens für die gemäß § 8 Abs. 1 KapMuG auszusetzenden Verfahren unzulässig. Den Klägern der Ausgangsverfahren würde aber kein unzumutbarer Nachteil dadurch entstehen, dass ein etwaiges weiteres Musterverfahren erst nach Beendigung des ursprünglichen Musterverfahrens durchgeführt werden könnte. Die Haftungsfragen hängen in dieser Konstellation von den im ersten Musterverfahren zu klärenden Tatsachen- und Rechtsfragen (bzw. Teilen hiervon) ab. Gerade hieraus folgt dessen Vorgreiflichkeit für die Ausgangsverfahren. Setzt aber eine mögliche Haftung ohnehin zwingend die Beantwortung der dort aufgeworfenen Fragen (bzw. von Teilen hiervon) voraus, entsteht den Klägern der Ausgangsverfahren kein wesentlicher Nachteil, wenn diese Fragen auch vorab beantwortet werden würden.

b) Auch der von den weiteren Beigeladenen Reisert in Bezug auf ihre Erweiterungsanträge angeführte Aspekt, man gebe den Beteiligten im Kapitalanleger-Musterverfahren im Ergebnis prozessual weniger als in einem ZPO-Verfahren ohne KapMuG, greift nicht durch. Das Kapitalanleger-Musterverfahren ist darauf angelegt, dass den Beteiligten partiell „weniger gegeben wird“ als im ZPO-Verfahren. Dies folgt bereits aus der erforderlichen sog. Breitenwirkung der Feststellungsziele (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 KapMuG). Unabhängig davon führt die Auslegung des Senats aber auch nicht dazu, dass weitere – nur die Musterbeklagte zu 2) oder nur Informationsträger anderer Emittenten betreffende – Feststellungsziele nicht im Rahmen eines Musterverfahrens geklärt werden können. Dies ist vielmehr – nach Abschluss des ersten Musterverfahrens – der Fall. Die sukzessive Durchführung der Musterverfahren stellt – wie ausgeführt – keine unzumutbare Benachteiligung dar.

Diesem Verständnis steht auch nicht der in der Begründung des Gesetzentwurfs vom 14. März 2005 (BT-Drs. 15/5091, S. 24) zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wille entgegen. Dort heißt es zu § 5 des Entwurfs (dieser entspricht dem heutigen § 7 Satz 1 KapMuG):

„Damit sollen parallel [Hervorh. durch den Senat] laufende Musterverfahren aus prozessökonomischen Gründen vermieden werden. […] Deshalb erscheint es sinnvoll, dass die Rechtsstreite von den Prozessgerichten gemäß § 7 KapMuG-E ausgesetzt werden müssen, ohne dass die Feststellung des Vorliegens weiterer Anspruchsvoraussetzungen einem Oberlandesgericht vorgelegt wird. Deren Vorliegen kann während der Dauer eines Musterverfahrens [Hervorh. durch den Senat] nur durch eine Erweiterung des Gegenstandes des Musterverfahrens gemäß § 13 Satz 2 KapMuG-E festgestellt werden.“

Diesen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber durchaus die Möglichkeit gesehen hat, dass nach Abschluss eines Musterverfahrens ein weiteres Musterverfahren initiiert werden könnte. Sukzessiv durchgeführte Musterverfahren sind vor diesem Hintergrund nicht per se zu vermeiden. Solche stellen auch nicht per se eine Beeinträchtigung der Effektivität des Rechtsschutzes dar. Vielmehr kann eine Abwägung der insoweit unter Umständen auch gegenläufigen Interessen unterschiedlicher Gruppen anspruchstellender Beteiligter eines Musterverfahrens dazu führen, dass eine extensive Auslegung des Begriffs des einheitlichen Lebenssachverhalts und eine hieraus folgende (drohende) Überfrachtung eines Musterverfahrens mit Feststellungszielen den effektiven Rechtsschutz der Mehrheit der anspruchstellenden Beteiligten beeinträchtigen und damit dem Sinn und Zweck des KapMuG entgegenstehen kann (s.o.).

III.

Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen.

1. Die Möglichkeit zur Zulassung der Rechtsbeschwerde folgt aus § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3. Fall ZPO. Dieser gilt auch im Fall der Zurückweisung eines Erweiterungsantrags im Kapitalanleger-Musterverfahren (Vollkommer, in: KK-KapMuG, 2. Aufl., § 15, Rn. 25; Kruis, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 15 KapMuG, Rn. 10; hiervon geht offenbar auch das OLG München aus [Beschl. v. 15. Dezember 2014 – Kap 3/10 –, NZG 2015, 399, 400]). Das Oberlandesgericht entscheidet im Musterverfahren „im ersten Rechtszug“ (vgl. Vollkommer, in KK-KapMuG, 2. Aufl., § 11, Fußn. 20).

2. Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 3 Satz 1 ZPO in Verbindung mit § 574 Abs. 2 ZPO liegen vor. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache dann, wenn sie eine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann (vgl. statt vieler nur BGH, Beschluss vom 1. Oktober 2002 – XI ZR 71/02 –, BGHZ 152, 182). Dies ist bei der Frage der Auslegung des Begriffs des einheitlichen Lebenssachverhalts im Sinne des KapMuG der Fall. Diese Auslegung entscheidet darüber, ob gleichgerichtete Musterverfahrensanträge vorliegen (§ 4 Abs. 1 KapMuG) und damit über die Frage, ob das für einen Vorlagebeschluss nötige Quorum erreicht ist (§ 6 Abs. 1 KapMuG), welchen Umfang die Sperrwirkung gemäß § 7 Satz 1 KapMuG hat und in welchem Umfang Erweiterungsanträge möglich sind (§ 15 KapMuG). Diese Auslegungsfrage kann sich vor diesem Hintergrund in jedem Kapitalanleger-Musterverfahren stellen und ist höchstrichterlich bislang nicht geklärt.

3. Die Rechtsfrage ist auch entscheidungserheblich. Die weiteren Voraussetzungen des § 15 KapMuG liegen vor.

a) Voraussetzung für einen Erweiterungsantrag nach § 15 KapMuG ist, dass der Individualrechtsstreit des Antragstellers von dem zusätzlich zu klärenden Feststellungsziel abhängt (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG). Dabei genügt es, wenn dies für das Oberlandesgericht zumindest plausibel ist. Eine Prüfung des Ausgangsverfahrens im Einzelnen, das dem Oberlandesgericht nicht vorliegt, obliegt ihm nicht. Daher ist auch keine Beiziehung der Verfahrensakte des Prozessgerichts angezeigt (vgl. Vollkommer, KK-KapMuG, 2. Aufl., § 15, Rn. 14).

Für den Senat ist plausibel, dass das gegen die Musterbeklagte zu 1) gerichtete Ausgangsverfahren des Beigeladenen Loy von den zusätzlich zu klärenden Feststellungszielen abhängt. Eine Haftung der Musterbeklagten zu 1) in diesem Ausgangsverfahren hängt von den Fragen ab,

ob relevante Prospektfehler vorliegen (Erweiterungsanträge 1 und 2),

die Musterbeklagte zu 1) in diesem Zusammenhang pflichtwidrig und schuldhaft ihre vorvertraglichen Aufklärungspflichten gegenüber den Anleihegläubigern verletzt hat (Erweiterungsantrag 3)

und die Musterbeklagte potenzielle Haftungsschuldnerin gegenüber den Anleihegläubigern aus c.i.c., Prospekthaftung im weiteren Sinne und/oder § 826 BGB ist (Erweiterungsantrag 4).

Der Erweiterungsantrag 5 betrifft den Haftungsumfang der geltend gemachten Ansprüche.

b) Die Erweiterungsanträge wären auch sachdienlich. Dabei kann auf die in § 3 Abs. 1 KapMuG genannten Kriterien zurückgegriffen werden (vgl. Vollkommer, in: KK-KapMuG, 2. Aufl., § 15, Rn. 17). Danach ist insbesondere erforderlich, dass den Anträgen Bedeutung für andere Rechtsstreitigkeiten zukommt und dass diese nicht zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt sind (§ 3 Nr. 3 und Nr. 4 KapMuG).

Die in den Erweiterungsanträgen enthaltenen Feststellungsziele haben eine über das Verfahren des Beigeladenen Loy hinausgehende Entscheidungserheblichkeit. Hierfür genügt es im Rahmen eines Erweiterungsantrags, dass die Feststellung des weiteren Feststellungsziels potentiell über das Verfahren des Antragstellers hinaus Bedeutung hat (vgl. Vollkommer, in: KK-KapMuG, 2. Aufl., § 15, Rn. 18). Dies ist hier der Fall. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Anträge zum Zweck der Prozessverschleppung gestellt wurden.

Die Sachdienlichkeit der Erweiterungsanträge lässt sich auch nicht aufgrund allgemeiner Abwägungskriterien ablehnen. Für die Frage der Sachdienlichkeit kann auf die allgemeinen Grundsätze zu § 263 ZPO zurückgegriffen werden (vgl. Kruis, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 15 KapMuG, Rn. 18). Sachdienlichkeit ist regelmäßig zu bejahen, wenn der Vorlagebeschluss, wären die weiteren Feststellungsziele bereits in den anfänglichen Musterverfahrensanträgen enthalten gewesen, eine planwidrige Lücke aufweisen würde (Kruis, a. a. O.). Insbesondere in der Anfangsphase eines Musterverfahrens wird das Tatbestandsmerkmal der Sachdienlichkeit in aller Regel nicht dazu führen können, dass ein Feststellungsziel, das vor Erlass des Vorlagebeschlusses zulässiger Gegenstand eines Musterverfahrensantrags gewesen wäre, im Rahmen eines Erweiterungsantrags nicht zugelassen werden muss. In dieser Phase führt ein Erweiterungsantrag nämlich nicht zu einer qualitativ anderen Situation als ein Musterverfahrensantrag, der bereits im Vorlagebeschluss enthalten war. Das Merkmal der Sachdienlichkeit kann vor diesem Hintergrund nur unter dem Gesichtspunkt der bereits angefallenen Verfahrensdauer und/oder etwaiger bereits durchgeführter Beweisaufnahmen Relevanz entfalten.

Nach diesen Maßgaben wären die von dem Beigeladenen Loy formulierten Feststellungsziele bei Annahme eines einheitlichen Lebenssachverhalts im vorliegenden Verfahren als sachdienlich zu bewerten.

 

Dr. Jäde Stephan Dr. Hoffmann

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