Während Europa im Jahr 1000 noch aus zersplitterten Fürstentümern bestand und von großen, gotischen Kathedralen keine Spur war, lief es auf der anderen Seite der Welt etwas anders ab. In Südindien plante ein Herrscher gerade, das vielleicht größte Tempelbauprojekt des Mittelalters – ein Bauwerk, das in Sachen Größe und Opulenz nur von den Pyramiden Ägyptens übertroffen wurde.
Dieser Herrscher war Rajaraja Chola I., und seine Dynastie sollte nicht nur den Subkontinent, sondern das gesamte Handelsnetzwerk des Indischen Ozeans revolutionieren.
Ein Tempel, der Maßstäbe setzte
Der von Rajaraja Chola errichtete Brihadishvara-Tempel in Thanjavur war eine wahre Machtdemonstration in Stein. 66 Meter hoch, aus 130.000 Tonnen Granit erbaut, enthielt er eine 12 Fuß hohe Shiva-Statue, die in Gold gehüllt und mit Rubinen besetzt war. Im Inneren befanden sich 60 kunstvolle Bronzestatuen, geschmückt mit Perlen aus eroberten Gebieten wie Sri Lanka.
Dieser Tempel war mehr als ein religiöses Zentrum – er war eine wirtschaftliche und administrative Superstruktur. Er besaß Ländereien, verwaltete Vorräte und fungierte als riesige Institution für Infrastrukturprojekte. Jahr für Jahr strömten 5.000 Tonnen Reis aus den eroberten Gebieten in seine Speicher – genug, um ganze Regionen zu versorgen.
Die Cholas: Krieger, Händler und Weltverbinder
Die Cholas waren keine gewöhnliche Dynastie. Während Rajaraja Chola sich als mächtiger Eroberer erwies – seine Truppen brannten gegnerische Häfen nieder und marschierten über die westindischen Ghats nach Sri Lanka – nutzten seine Nachfolger eine geniale Mischung aus militärischer Expansion und Handelsstrategie.
Sein Sohn Rajendra Chola ging noch weiter:
- Er schickte Truppen auf Handelsschiffen nach Südostasien, um Kedah (heutiges Malaysia) zu erobern, ein Schlüsselzentrum des internationalen Gewürzhandels.
- Er schuf enge Allianzen mit mächtigen tamilischen Händlergilden, die den gesamten Indischen Ozean durchzogen.
- Tamilische Kaufleute gründeten Handelsniederlassungen von Sumatra bis China und wurden in Städten wie Quanzhou sogar zu Steuerbeamten.
Die Chola-Dynastie war in ihrer Struktur beinahe ein Vorgänger der britischen Ostindien-Kompanie, nur 700 Jahre früher.
Die globalen Spuren der Cholas
Die wirtschaftliche und kulturelle Reichweite der Cholas war gewaltig. Ihre Tempel wurden zu wirtschaftlichen Zentren, umgeben von Märkten, Werkstätten und Handelsrouten, die bis nach Ägypten und Spanien reichten.
Chola-Künstler schufen atemberaubende Bronze-Statuen, die als einige der schönsten Werke der Kunstgeschichte gelten – ihre Skulpturen von Shiva als Nataraja werden heute in Museen auf der ganzen Welt ausgestellt.
Bis ins 19. Jahrhundert stellten die Nachfahren der tamilischen Kaufleute die größte indische Diaspora in Südostasien und trugen zur Verwaltung des britischen Kolonialreichs bei.
Fazit: Die vergessene Weltmacht des Mittelalters
Die Cholas waren für den Indischen Ozean das, was die Mongolen für die eurasischen Steppen waren – eine Kraft, die Handel, Kunst und Kultur über Kontinente hinweg verband. Sie schufen ein globales Handelsnetzwerk, setzten architektonische Maßstäbe und prägten die Weltwirtschaft ihrer Zeit.
Heute erinnern ihre Tempel, ihre Kunstwerke und die Spuren ihrer Handelswege an eine Epoche, in der Südindien das Zentrum einer globalisierten Welt war – lange bevor dieser Begriff überhaupt existierte.