Jens Reime: Die BaFin hat sich einerseits Anlage-Zertifikate wie Zins- und Express-Zertifikate angesehen und andererseits Turbo-Zertifikate untersucht. Bei den Anlage-Zertifikaten gab es zwar keine Hinweise auf systematische Fehlberatung oder massiven Verkaufsdruck seitens der Banken, aber es wurden Mängel bei der Produktgestaltung festgestellt. Viele Kunden haben die Risiken nicht voll erfasst.
Besonders besorgniserregend sind aber die Ergebnisse zur zweiten Studie über Turbo-Zertifikate. Hier haben drei von vier Anlegern Geld verloren – und das bei einem Produkt, das sich an den Finanzmärkten rasant ausgebreitet hat. Insgesamt verloren deutsche Privatanleger zwischen 2019 und 2023 rund 3,4 Milliarden Euro. Das zeigt: Diese Produkte sind hochriskant und für viele Kleinanleger schlicht ungeeignet.
Die BaFin sieht kein systematisches Fehlverhalten beim Verkauf von Anlage-Zertifikaten. Ist das eine Entwarnung?
Jens Reime: Nicht unbedingt. Nur weil kein massiver Verkaufsdruck nachweisbar war, heißt das nicht, dass hier alles einwandfrei lief. Die BaFin selbst hat Mängel festgestellt, insbesondere bei der Frage, ob die Produkte für die Kunden überhaupt passend waren. Ein Viertel der Käufer von Express-Zertifikaten wusste offenbar nicht genau, was sie da kauften.
Und wenn Kunden die Risiken nicht verstehen, muss man sich fragen, ob die Beratung wirklich ausreichend war. Banken haben hier eine gesetzliche Pflicht, Kunden über Chancen und Risiken aufzuklären – das scheint zumindest nicht überall gelungen zu sein.
Bei Turbo-Zertifikaten sieht es noch dramatischer aus. Warum haben so viele Anleger dort Geld verloren?
Jens Reime: Turbo-Zertifikate sind hochspekulative Produkte mit Hebelwirkung. Sie können sehr schnell hohe Gewinne bringen – aber genauso schnell zu hohen Verlusten führen. Sie haben eine sogenannte Knock-Out-Schwelle: Wird diese unterschritten, verfällt das Zertifikat wertlos. Das macht sie extrem riskant, insbesondere für Kleinanleger, die die Mechanismen der Börse nicht perfekt durchschauen.
Viele dieser Anleger haben vermutlich gar nicht realisiert, wie schnell das eingesetzte Geld verloren sein kann. Die Studie zeigt, dass sich das Marktvolumen für Turbo-Zertifikate fast verdreifacht hat – offenbar, weil viele Privatanleger in diese hochriskanten Geschäfte eingestiegen sind, ohne das volle Ausmaß der Gefahren zu verstehen.
Müsste die BaFin hier stärker eingreifen?
Jens Reime: Absolut. Es gibt zwar jetzt eine Studie, aber was folgt daraus? Es ist schön, wenn die BaFin Anlegerschutz „genauer anschauen“ will, aber das hilft den 543.000 Anlegern, die in den letzten fünf Jahren Geld verloren haben, nicht weiter.
Die BaFin könnte etwa eine Pflichtberatung für Privatanleger einführen, bevor diese solche Hebelprodukte kaufen dürfen – ähnlich wie es bei anderen spekulativen Finanzprodukten bereits der Fall ist. Eine stärkere Regulierung oder gar ein Verkaufsverbot für Kleinanleger könnte ebenfalls diskutiert werden.
Was raten Sie Anlegern, die in der Vergangenheit mit Zertifikaten Verluste gemacht haben?
Jens Reime: Wer mit Turbo-Zertifikaten oder anderen strukturierten Finanzprodukten Verluste gemacht hat, sollte prüfen lassen, ob die Beratung fehlerhaft war. Banken müssen ihre Kunden über Risiken aufklären – wenn das nicht passiert ist oder bewusst Risiken verharmlost wurden, kann es sein, dass Schadensersatzansprüche bestehen.
Auch bei den Produktbeschreibungen gibt es oft rechtliche Angriffspunkte, wenn diese nicht transparent genug waren. Ich rate betroffenen Anlegern, sich an einen spezialisierten Anwalt zu wenden und die Beratung sowie die Produktunterlagen überprüfen zu lassen.
Glauben Sie, dass sich durch die Studien etwas ändern wird?
Jens Reime: Ich hoffe es, aber ich bin skeptisch. Die BaFin hat jetzt Zahlen präsentiert, aber eine echte Konsequenz fehlt bisher. Für mich sieht es eher danach aus, dass man den Banken offiziell einen „Freispruch“ bei den Anlage-Zertifikaten ausstellt, während die Probleme bei den Turbo-Zertifikaten noch untersucht werden.
Wenn sich nichts ändert, werden wir in fünf Jahren die nächste Studie sehen – mit denselben Ergebnissen und noch mehr verlorenen Milliarden. Ich denke, hier ist ein deutlich stärkeres Eingreifen notwendig, um Anleger wirklich zu schützen.
Herr Reime, vielen Dank für das Gespräch.