Auch wenn der Ruf der Genossenschaften in letzter Zeit durch dubiose Anbieter etwas angeknackst ist, so bleibt das Konzept gerade in Zeiten steigender Mieten reizvoll. Leider nutzen das so manche Anbieter aus und bieten Konditionen, die dem Genossenschaftsgedanken widersprechen. Überlegen Sie sich also genau, wieviel Ihnen eine eigene Wohnung wert ist. Wollen Sie auf Ihr Recht der Mitbestimmung verzichten?
Genossenschaftlich wohnen
An einem sonnigen Augustabend 2019 versammeln sich Julia Schreiber* und ihr Freund mit Familien, Pärchen und Einzelpersonen vor einem Bauzaun zwischen einer Grundschule und einer Kleingartenanlage in Berlin-Weißensee. Dahinter entsteht das „Quartier Wir“ der Baugenossenschaft „Besser Genossenschaftlich Wohnen von 2016“ eG aus Berlin. Mitarbeiter beantworten Fragen und führen die rund zwei Dutzend Interessenten später durch die Baustelle.
Lebenslanges Wohnrecht, günstige Mieten
Schreiber und ihr Freund wollen zusammenziehen, seit 2016 suchen sie zunehmend frustriert nach einer Bleibe, wie viele andere Wohnungssuchende in Großstädten. Eine Wohnung in einer Genossenschaft würde dem Paar besonders zusagen. Die Vorteile: Wer einzieht, darf lebenslang bleiben. Kündigt sich Nachwuchs an, trennt sich ein Paar oder wird eine barrierefreie Wohnung nötig, bekommen langjährige Genossen oft den Vorzug, wenn etwas Passendes frei wird. Das monatliche Nutzungsentgelt ist in der Regel moderat im Vergleich zu Mieten ähnlicher Wohnungen. Die Begeno16 setzt für ihren Neubau in Berlin 11 Euro pro Quadratmeter plus Nebenkosten im Monat an.
Mitglied werden ist einfach
Interessenten treten einer Genossenschaft bei. Schreiber hat das bereits zweimal getan: Bei der bbg Berliner Baugenossenschaft eG zahlte sie 50 Euro Eintrittsgeld plus 400 Euro für zwei Anteile. Die Genossenschaft Beamten-Wohnungs-Verein zu Berlin eG (BWV) verlangte 200 Euro Eintrittsgeld und 650 Euro für einen Anteil. Beide Genossenschaften sind mehr als 120 Jahre alt und groß. Wer eine der jeweils mehr als 7 000 Wohnungen ergattert, muss weitere Anteile übernehmen. Bei der bbg sind es je nach Größe drei beziehungsweise acht weitere für je 200 Euro, bei der BWV einer für 650 Euro. Scheiden Genossen aus, erhalten sie den dann aktuellen Wert ihrer Anteile ausbezahlt. Oft entspricht er dem eingezahlten Betrag.
Klassische Genossenschaften: Geringer Einsatz, geringe Chancen
Das ist ein überschaubarer Einsatz für die Chance auf eine ordentliche Wohnung in einer der bundesweit mehr als 2 000 Genossenschaften, die seit dem 19. Jahrhundert entstanden sind. Die Wartelisten sind oft lang. Die bbg machte Schreiber beim Eintritt 2016 wenig Hoffnung: „Ich erfuhr, dass ich voraussichtlich zehn Jahre oder noch länger warten muss.“ Ihre beiden Genossenschaften nehmen im Moment nicht einmal mehr Aufnahmeanträge von Interessenten an.
Genossen dürfen mitbestimmen
Im Vergleich zu Mietern haben Genossen einen weiteren Vorteil: Sie haben Mitspracherechte. Bei kleinen Genossenschaften stimmen sie an den jährlichen Versammlungen über Angelegenheiten ihrer Genossenschaft selbst ab – wenn sie möchten, etwa über die Verwendung des Gewinns. Bei großen wählen die Mitglieder oft Vertreter, die für sie an den Versammlungen teilnehmen. Im September 2019 etwa war Schreiber mit den mehr als 23 000 Mitgliedern der BWV aufgerufen, über die Vertreter bei der BWV unter den Kandidaten zu entscheiden.
Begeno16: „Social Business“ mit besonderen Regeln
Schreiber war neugierig auf die Begeno16 eG, eine kleine, 2016 gegründete Genossenschaft. Sie könnte mit ihrem Partner einziehen, sobald der Bau fertig ist. Von Gemeinschaft und Mitbestimmung ist viel die Rede. Als „Social Business“, wie es Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus definiere, so stellt sich die Genossenschaft in der Satzung vor. Sie sei „ausschließlich auf die Lösung wichtiger sozialer Probleme ausgerichtet“ – durch den Bau und Betrieb „innovativer und zukunftsträchtiger Wohnformen und Quartiere“. Die bbg und BWV formulieren profaner, dass sie bezahlbaren Wohnraum bereitstellen wollen.
Interessenten müssen viel Geld mitbringen
Das „Quartier Wir“ bietet unter anderem ungewöhnliche „Clusterwohnungen“, bei denen sich kleine Zimmer mehrerer Bewohner um große Gemeinschaftsflächen gruppieren. Wer einziehen will, muss aber finanziell deutlich mehr beisteuern als bei den alten Genossenschaften. Die 2016 gegründete Begeno16 verfügt noch nicht über ein dickes Kapitalpolster für den Bau oder Kauf von Immobilien. Genossenschaften verlangen in dieser Situation vergleichsweise hohe Pflichtbeiträge von den Nutzern ihrer Wohnungen. Begeno16-Interessenten müssen wohnungsbezogene Anteile in Höhe von 500 Euro pro Quadratmeter zeichnen. Bei 100 Quadratmetern bringen sie also 50 000 Euro ein.
Bewohner haben kein Stimmrecht
Bei solchen Beträgen wird die Dividende interessant, die viele Genossenschaften ausschütten, wenn es gut läuft. Bei der bbg und BWV etwa waren es in den vergangenen Jahren jeweils 4 Prozent pro Jahr für jeden Anteil. Die Begeno16 sieht bei guter Ertragslage bis zu 3 Prozent im Jahr pro Anteil vor. Rechnen sollten die Genossen damit aber nicht. Die Begeno16 betont auf ihrer Internetseite, „nicht auf Gewinnerzielung für eine Ausschüttung an die Mitglieder ausgerichtet“ zu sein.
Zwei Kategorien von Mitarbeitern
Schreiber könnte über die Ausschüttung weder direkt noch über Vertreter mit entscheiden. Die Satzung sieht zwei Kategorien von Mitgliedern vor, nicht nur ordentliche, wie üblich, sondern auch „investierende“. Darunter fallen hier die Bewohner. Sie haben ein Anrecht auf Dividenden, aber kein Stimmrecht. Stimmrechte haben nur ordentliche Mitglieder, die im Gegenzug keinen Anspruch auf eine Gewinnausschüttung haben und die Wohnungen nicht nutzen dürfen. Warum? Auf der Internetseite erklärt die Begeno16, so sicherzustellen, dass die Stimmrechte bestimmter Wohnungsnutzergruppen nicht den Satzungszweck „unterwandern”.
Ordentlich und investierend
Nur ein eingeschränkter Kreis kommt als ordentliches Mitglied infrage: Personen oder Firmen aus dem Bereich eines „Social Business“ oder mit nützlichen Kenntnissen, etwa aus der Wohnungswirtschaft. Die Begeno16 hat derzeit nach eigenen Angaben zwölf ordentliche Mitglieder, davon drei in wirtschaftlicher Verbindung zur UTB-Gruppe aus Berlin, die das „Quartier Wir“ baut. Begeno16-Aufsichtsräte müssen ordentliches Mitglied sein. Zwei der drei Aufsichtsräte haben eine Verbindung zu UTB. Vorsitzender ist Thomas Bestgen, Geschäftsführer der UTB Projektmanagement GmbH, ein weiterer berät die UTB als Partner einer Steuerberatungsgesellschaft. Den Begeno16-Vorstand Klaus Boemer nennt die UTB-Internetseite als führenden Mitarbeiter.
Gefahr von Interessenskonflikten
Besteht nicht die Gefahr von Interessenkonflikten bei Geschäften mit UTB-Gesellschaften oder bei der Auswahl der Baufirmen für weitere Projekte? Wie wahrscheinlich ist es, dass die Begeno16 andere Projektentwickler wählt, wenn eine UTB-Firma den Auftrag gerne hätte? Wie hart vertritt sie die Interessen der Genossen gegenüber der Geschäftspartnerin? Begeno16-Vorstand Boemer teilte Finanztest dazu mit: „Interessenskonflikte können nur entstehen, wenn es gegensätzliche Interessen gibt. Dies ist bei UTB und Begeno16 nicht der Fall.“
„Nicht mit dem Genossenschaftsgesetz vereinbar“
Auch bei einigen anderen Genossenschaften sind Wohnungsnutzer nur „investierende Mitglieder“: Die Gründer versprechen sich wirtschaftliche Vorteile davon, ihre Häuser in Genossenschaften einzubringen und die Bewohner als „Mitglieder“ aufzunehmen. Sie gewähren ihnen aber kein Stimmrecht. Ingeborg Esser, Hauptgeschäftsführerin des GdW Bundesverband deutscher Wohnungs-und Immobilienunternehmen e. V. in Berlin hält dies für problematisch: „Dieses Konstrukt ist aus unserer Sicht nicht mit dem Genossenschaftsgesetz vereinbar.“
Wer eine Wohnung nutzt, muss auch Stimmrecht haben
Esser erläutert, das Genossenschaftsgesetz erlaube es, den Einfluss investierender Mitglieder zu begrenzen, wenn diese sich nur kapitalmäßig beteiligten und die Einrichtungen der Genossenschaft nicht nutzten. Es sei genossenschaftsrechtlich gar nicht zulässig, dass solche Mitglieder ohne Stimmrecht eine Wohnung nutzen. Das komme nur in Betracht, „wenn sie als ordentliche Mitglieder mit allen Rechten aufgenommen werden.“
Registergericht will die Sache überprüfen
Die Begeno16-Satzung sieht genau das nicht vor. Die Begeno16 erklärte, diese Interpretation des Genossenschaftsgesetzes nicht zu teilen. Die Satzung sei unter Einbeziehung ihres Prüfungsverbands der Deutschen Verkehrs-, Dienstleistungs- und Konsumgenossenschaften e. V. aus Hamburg und einer Wirtschaftsprüfungskanzlei erstellt worden. Der Prüfungsverband äußerte sich nicht dazu. Das zuständige Registergericht Berlin-Charlottenburg kündigte Recherchen an, eine Antwort traf bis Redaktionsschluss nicht ein.
Begeno16-Gründer mit öffentlicher Funktion
Begeno16-Gründer und -Vorstand bis 4. Februar 2019 ist der Genossenschaftsexperte Jochen Hucke. Er wurde am 25. Februar 2019 zum Genossenschaftsbeauftragten des Landes Berlin berufen. Er ließ mitteilen, er wolle davon Abstand nehmen, die Fragen zu beantworten. Dass er Begeno16-Mitglied sei, müsse nicht gesondert recherchiert werden.
Seriöse Genossenschaften arbeiten anders
Julia Schreiber und ihr Freund suchen weiter: „Wir sollen so viel Geld beisteuern, dürfen aber nicht mitbestimmen.“ Dem Genossenschaftsgedanken entspricht es nicht, den Bewohnern kein Stimmrecht zu gewähren.
Tipp: Wie Sie solide Genossenschaften von dubiosen unterscheiden, zeigen wir in unserem Genossenschafts-Special.
* Name von der Redaktion geändert.
Quelle: https://www.test.de/Wohnungsbaugenossenschaft-Neues-Konzept-mit-Haken-5536845-0/