Bayerisches Oberstes Landesgericht
Az.: 101 Kap 1/22
In dem Kapitalanleger-Musterverfahren
Dipl.-Kfm. Ebert Kurt, Kelkheimer Straße 21, 65812 Bad Soden am Taunus
– Musterkläger –
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Mattil & Kollegen, Thierschplatz 3, 80538 München, Gz.: 27/23KU/al/au
Rechtsanwalt Dr. Vitt Elmar, Am Fuhrenkamp 16, 21376 Salzhausen
gegen
1) |
Dr. Braun Markus, Gloriettegasse 20, A-1130 Wien, Österreich |
2) |
EY GmbH & Co. KG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, vertreten durch die TS Verwaltungs-GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, diese gesetzlich vertreten durch d. Geschäftsführer, Flughafenstraße 61, 70629 Stuttgart |
3) |
Dahmen Martin, c/o EY GmbH & Co. KG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Flughafenstraße 61, 70629 Stuttgart |
4) |
Budde Andreas, c/o EY GmbH & Co. KG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Flughafenstraße 61, 70629 Stuttgart |
5) |
von Knoop Alexander |
6) |
Marsalek Jan |
7) |
Koch Carsten als Insolvenzverwalter des Vermögens der MB Beteiligungsgesellschaft mbH, Frankfurter Straße 13, 35781 Weilburg |
8) |
Dr. Jaffé Michael als Insolvenzverwalter des Vermögens der Wirecard AG, Franz-Joseph-Straße 8, 80801 München |
9) |
Broschulat Ralf, c/o EY GmbH & Co. KG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Flughafenstraße 61, 70629 Stuttgart |
10) |
Bellenhaus Oliver, c/o MELCHERS Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB, Im Breitspiel 21, 69126 Heidelberg |
11) |
Loetscher Andreas, c/o EY GmbH & Co. KG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Flughafenstraße 61, 70629 Stuttgart |
12) |
Freiherr von Erffa Stephan Egilmar Hartmann, Geschwister-Scholl-Straße 15, 06712 Zeitz |
13) |
Ley Burkhard, Jagenberg 11, 42659 Solingen |
Prozessbevollmächtigte zu 1:
Rechtsanwältin Kalweit Katrin, Faustgäßchen 4, 99084 Erfurt, Gz.: 127/24
Rechtsanwältin Kraußlach Theres, c/o Bietmann Rechtsanwälte Steuerberater
PartmbB, Hefengasse 3, 99084 Erfurt, Gz.: 01293/24 TK / tk
Prozessbevollmächtigte zu 2 bis 4, 9 und 11:
LUTZ | ABEL Rechtsanwalts PartG mbB, Brienner Straße 29, 80333 München, Gz.: 00003E20 MZ/cobu; weiteres Gz.: 742023 NP/juni
Prozessbevollmächtigte zu 8:
SZA SCHILLING, ZUTT & ANSCHÜTZ Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Otto-Beck-Straße 11, 68165 Mannheim, Gz.: 677/23
Prozessbevollmächtigte zu 10:
MELCHERS Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB, Im Breitspiel 21, 69126 Heidelberg, Gz.: 2277/23
Prozessbevollmächtigte zu 12:
Rechtsanwalt Freiherr von Erffa Hubertus, Reichsstraße 15, 04109 Leipzig, Gz.: HUE/hgm
Prozessbevollmächtigte zu 13:
Rechtsanwälte Berner Fleck Wettich, Cecilienallee 17, 40474 Düsseldorf
erlässt das Bayerische Oberste Landesgericht – 1. Zivilsenat – durch die Präsidentin des Bayerischen Obersten Landesgerichts Dr. Schmidt, die Richterin am Bayerischen Obersten Landesgericht Dr. Muthig, die Richterin am Bayerischen Obersten Landesgericht Dr. Schwegler, die Richterin am Bayerischen Obersten Landesgericht von Geldern-Crispendorf und den Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht Niklaus aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 22. November 2024 folgenden
Teil-Musterentscheid:
I. |
Die folgenden Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses des Landgerichts München I vom 14. März 2022 (Az. 3 OH 2767/22 KapMuG) werden als im Musterverfahren nicht statthaft zurückgewiesen: |
II. |
Die folgenden Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses des Landgerichts München I vom 14. März 2022 (Az. 3 OH 2767/22 KapMuG) werden als unzulässig zurückgewiesen: |
Gründe:
A.
In dem vorliegenden Kapitalanleger-Musterverfahren streiten die Parteien darüber, ob die Wirecard AG im Zusammenhang mit der Veröffentlichung ihrer Geschäftsberichte für die Jahre 2014 bis 2018 Pflichten im Rahmen der Kapitalmarktkommunikation verletzt hat, sowie darüber, ob die Musterbeklagte zu 2) als Abschlussprüferin bei der Überprüfung der Konzern-Rechnungslegung der Wirecard AG gegen Prüfpflichten verstoßen und sich durch die Erteilung uneingeschränkter Bestätigungsvermerke zu den Konzernabschlüssen und Konzernlageberichten für die vorgenannten Geschäftsjahre an fehlerhaften Kapitalmarktinformationen der Wirecard AG beteiligt bzw. selbst fehlerhafte Kapitalmarktinformationen getätigt hat.
Die im Jahr 1999 gegründete Wirecard AG mit Sitz in 85609 Aschheim, Bayern, stand als Konzernmutter an der Spitze des Wirecard-Konzerns mit mehreren inländischen und ausländischen Tochterunternehmen. Ihr Unternehmensgegenstand bestand laut Handelsregistereintrag (Amtsgericht München, HRB 169227) unter anderem in der Entwicklung, Konzipierung und Realisierung von technischen Anwendungen, Dienstleistungen und Projektvorhaben im Bereich Zahlungssysteme sowie allen damit im Zusammenhang stehenden Geschäften, einschließlich des Erwerbs und der Vergabe von Lizenzen im Finanzdienstleistungsbereich. Von September 2018 bis August 2020 war die Gesellschaft im Deutschen Aktienindex (DAX) gelistet.
Für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 veröffentlichte die Wirecard AG Geschäftsberichte, die jeweils unter anderem den Konzernlagebericht, den Konzernabschluss, den – für jedes der genannten Geschäftsjahre erteilten – uneingeschränkten Bestätigungsvermerk des Konzernabschlussprüfers sowie die Versicherung der gesetzlichen Vertreter (Konzern-Bilanz- und Konzern-Lageberichtseid) enthalten; hinsichtlich des Inhalts der Geschäftsberichte wird auf die Anlagen K 25a bis K 25e und die auf der Homepage der Wirecard AG jeweils eingestellten Dokumente verwiesen.
In Reaktion auf Vorwürfe der Bilanzfälschung, die im Zusammenhang mit dem Drittpartnergeschäft („Third Party Acquiring“, im Folgenden auch „TPA-Geschäft“) gegen den Wirecard-Konzern erhoben worden waren, beauftragte die Wirecard AG Ende Oktober 2019 die KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit einer unabhängigen Sonderprüfung. Am 27. April 2020 erstellte diese ihren Prüfungsbericht. Mit Ad-hoc-Mitteilung vom 22. Juni 2020 informierte die Wirecard AG darüber, dass der Vorstand derzeit davon ausgehe, dass die bisher zu Gunsten von Wirecard ausgewiesenen Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Mrd. Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestünden und die bisherigen Beschreibungen des Drittpartnergeschäfts durch die Gesellschaft unzutreffend seien. Drei Tage später, am 25. Juni 2020, stellte sie beim Amtsgericht München Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Mit Beschluss vom 25. August 2020 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Wirecard AG eröffnet.
Der Musterbeklagte zu 1) war bis zu seinem Ausscheiden im Juni 2020 Vorstandsvorsitzender der Wirecard AG.
Die Musterbeklagte zu 2) ist eine Wirtschaftsprüfergesellschaft, welche bis zu ihrer Umwandlung in eine Kommanditgesellschaft als Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft firmierte. Diese war für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 von der Wirecard AG mit der Jahres- und Konzernabschlussprüfung beauftragt. Sie testierte die Konzernabschlüsse sowie Konzernlageberichte der Wirecard AG für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 jeweils mit einem uneingeschränkten Bestätigungsvermerk. Wegen des Wortlauts des Vermerks über die Prüfung des Konzernabschlusses und des Konzernlageberichts für das Geschäftsjahr 2014 vom 7. April 2015, des Vermerks für das Geschäftsjahr 2015 vom 6. April 2016, des Vermerks für das Geschäftsjahr 2016 vom 5. April 2017, des Vermerks für das Geschäftsjahr 2017 vom 11. April 2018 und des Vermerks für das Geschäftsjahr 2018 vom 24. April 2019 wird auf die Geschäftsberichte der Wirecard AG (vorgelegt als Anlagen K 25a bis K 25e sowie veröffentlicht auf der Website der Gesellschaft) Bezug genommen.
Die Musterbeklagten zu 3), 4), 9) und 11) waren im Rahmen der Abschlussprüfungen für unterschiedliche Berichtsjahre des Zeitraums 2014 bis 2018 als Wirtschaftsprüfer für die Musterbeklagte zu 2) tätig.
Die ursprüngliche Musterbeklagte zu 7), die MB Beteiligungsgesellschaft mbH, hatte die Verwaltung eigenen Vermögens zum Gegenstand; ihr Geschäftsführer war – mit kurzzeitiger Unterbrechung – der Musterbeklagte zu 1). Mit Beschluss des Amtsgerichts Limburg a.d. Lahn vom 21. Februar 2024 (Az. 9 IN 20/24) wurden die vorläufige Verwaltung ihres Vermögens durch einen vorläufigen Insolvenzverwalter angeordnet und der Gesellschaft ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 22 InsO). Das gegen den (vorläufigen) Insolvenzverwalter als Rechtsnachfolger der ursprünglichen Musterbeklagten zu 7) gerichtete Kapitalanleger-Musterverfahren ist seither gemäß § 3 Abs. 1 EGZPO in Verbindung mit § 240 Satz 2 ZPO unterbrochen und bislang nicht aufgenommen worden. Durch Beschluss des Amtsgerichts Limburg a.d. Lahn vom 18. Juni 2024 ist über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet worden.
Der Musterbeklagte zu 8) ist Insolvenzverwalter des Vermögens der Wirecard AG.
Der Musterbeklagte zu 10) verfügte in der Wirecard AG und der Wirecard Bank AG zeitweise über Gesamtprokura gemeinsam mit einem Vorstandsmitglied oder einem anderen Prokuristen. Er leitete vormals eine Tochtergesellschaft der Wirecard AG in Dubai.
Der Musterbeklagte zu 12) war Head of Accounting der Wirecard AG und verfügte über Gesamtprokura gemeinsam mit einem Vorstandsmitglied oder einem anderen Prokuristen. Das Erlöschen der Prokura wurde am 1. Juli 2020 im Handelsregister eingetragen.
Der Musterbeklagte zu 13) war unter anderem Mitglied des Vorstands der Wirecard AG. Sein Ausscheiden wurde am 1. März 2018 im Handelsregister eingetragen.
Der frühere Musterbeklagte zu 5) ist dadurch aus dem Musterverfahren ausgeschieden, dass in sämtlichen gegen ihn geführten Ausgangsverfahren, zu denen dem Bayerischen Obersten Landesgericht die Verfahrensaussetzung mitgeteilt worden war, nachträglich die Aussetzungsbeschlüsse aufgehoben worden sind.
Das ursprünglich fälschlich als Musterbeklagter zu 6) geführte ehemalige Vorstandsmitglied der Wirecard AG ist nicht Partei des vorliegenden Musterverfahrens, da die Rechtsstreite, soweit sie gegen diese Person gerichtet waren, nicht ausgesetzt wurden, § 9 Abs. 5 KapMuG (in der bis zum 19. Juli 2024 geltenden Fassung, künftig: a. F.).
In den ausgesetzten Ausgangsverfahren werden einzelne oder alle Musterbeklagten, zum Teil im Wege der Tabellenfeststellungsklage, auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Der Wirecard AG werden Pflichtverletzungen im Rahmen der Kapitalmarktinformation zur Last gelegt. Der Abschlussprüferin wird die Erstellung falscher Bestätigungsvermerke vorgeworfen.
Mit Vorlagebeschluss vom 14. März 2022 (Az.: 3 OH 2767/22 KapMuG, im Klageregister veröffentlicht am 16. März 2022), hat das Landgericht München I dem Bayerischen Obersten Landesgericht gemäß § 6 Abs. 1 KapMuG a. F. zahlreiche Feststellungsziele zur Herbeiführung eines Musterentscheids vorgelegt. Der Vorlagebeschluss ist am 15. März 2022 bei dem Bayerischen Obersten Landesgericht eingegangen.
Der Senat hat mit Beschluss vom 13. März 2023 gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 KapMuG a. F. den Musterkläger bestimmt und dessen Bezeichnung gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG a. F. durch Veröffentlichung im Klageregister am 16. März 2023 bekannt gemacht. Zu den dort genannten Musterbeklagten sind infolge Aussetzung der gegen sie gerichteten Ausgangsverfahren die Musterbeklagten zu 9) und 10) (bekannt gemacht mit Beschluss vom 16. Oktober 2023, im Klageregister veröffentlicht am 19. Oktober 2023), der Musterbeklagte zu 11) (bekannt gemacht mit Beschluss vom 18. März 2024, im Klageregister veröffentlicht am 21. März 2024) und die Musterbeklagten zu 12) und 13) (bekannt gemacht mit Beschluss vom 14. August 2024, im Klageregister veröffentlicht am 19. August 2024) hinzugetreten. Mit Beschluss vom 22. Mai 2024 (im Klageregister veröffentlicht am 27. Mai 2024) hat der Senat das Ausscheiden des früheren Musterbeklagten zu 5) bekannt gemacht.
Mit den Feststellungszielen unter Teil „A. (Haupttat)“ sollen Klärungen herbeigeführt werden, welche die Unrichtigkeit der Geschäftsberichte der Wirecard AG für die Jahre 2014 bis 2018 sowie die Verantwortlichkeit des Musterbeklagten zu 1) hierfür und daraus abgeleitete Verletzungen von Publizitätspflichten der Wirecard AG betreffen. Mit den Feststellungszielen unter Teil „B. Zur Frage von Teilnahme“ sollen Fragen in Bezug auf eine Teilnahme der Musterbeklagten zu 2) an Publizitätspflichtverletzungen der Wirecard AG im Rahmen der Ad-hoc- und Regelpublizität durch Erteilung uneingeschränkter Bestätigungsvermerke zu den Konzernabschlüssen und Konzernlageberichten der Wirecard AG für die Jahre 2014 bis 2018 geklärt werden. Die Teile „C. (Schaden und Kausalität)“ und „D. (Zur Zulässigkeit)“ betreffen damit im Zusammenhang stehende Fragen materiell-rechtlicher und prozessualer Art.
Im Musterverfahren haben verschiedene Beteiligte beantragt, das Verfahren um zahlreiche weitere Feststellungsziele zu erweitern. Über die Zulassung dieser Erweiterungsanträge hat der Senat noch nicht entschieden.
Gegenstand des Musterverfahrens sind derzeit allein die Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses mit folgendem Wortlaut:
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Im Vorlageschluss, auf den ergänzend verwiesen wird, wird hinsichtlich des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts und der darauf gestützten Vorwürfe ausgeführt:
Die Wirecard AG habe in Ländern, in denen sie keine Lizenz als Zahlungsdienstleister gehabt habe, mit Partnerunternehmen zusammengearbeitet, um Zahlungen abzuwickeln. Die zugrunde liegenden Verträge hätten vorgesehen, dass die Partnerunternehmen Kreditkartentransaktionen für Kunden abwickelten, die durch die Wirecard AG vermittelt worden seien. Diese habe sich vertraglich gegenüber den Partnerunternehmen dazu verpflichtet, letztere von Vermögensverlusten, insbesondere solchen aus der Rückabwicklung von Zahlungsvorgängen aus Kreditkartentransaktionen, schadlos zu halten. Die Besicherung habe über treuhänderisch verwaltete „Barsicherheiten“ auf Treuhandkonten erfolgen sollen. Das „Third Party Acquiring“ (TPA) sei über die Wirecard UK & Ireland Ltd. mit Sitz in Dublin, die Wirecard Technologies GmbH mit Sitz in Aschheim sowie die Cardsystems Middle East FZ LLC mit Sitz in Dubai abgewickelt worden. Diese Gesellschaften hätten das TPA-Geschäft mit den Partnern Al Alam Solution Provider FZ-LLC mit Sitz in Dubai, Senjo Payments Asia Pte. Ltd. mit Sitz in Singapur sowie PayEasy Solutions Inc. mit Sitz in Metro Manila betrieben.
Im Rahmen des TPA-Geschäfts seien Umsatzerlöse von Wirecard fingiert worden. Im Geschäftsjahr 2015 hätten sich fingierte Gelder in Höhe von 113,5 Mio. Euro auf Treuhandkonten befunden; darüber hinaus seien 250 Mio. Euro an Forderungen fingiert gewesen. Damit sei der Geschäftsbericht des Jahres 2015 grob unrichtig gewesen. Fingierte Umsatzerlöse und fingierte Forderungen hätten in den Folgejahren zugenommen. Für das Geschäftsjahr 2016 seien „Anlage-(Brutto-)Umsatzerlöse“ in Höhe von ca. 541 Mio. Euro gegenüber den drei genannten TPA-Partnern fingiert gebucht worden, für das Geschäftsjahr 2017 917,63 Mio. Euro sowie für das Geschäftsjahr 2018 1.302,221 Mio. Euro. Im Jahr 2020 hätten sich schließlich allein auf den Treuhandkonten fingierte 1,9 Mio. (recte: Mrd.) Euro befunden.
Für betrügerische Handlungen der Wirecard AG sei der Musterbeklagte zu 1) als deren Vorstandsvorsitzender verantwortlich.
Die Musterbeklagte zu 2) habe ihre Aufgabe als Abschlussprüferin unter Verletzung der Prüfungsstandards nicht ausreichend wahrgenommen. Die hohen Gewinne von „Wirecard“ mit dem TPA-Geschäft seien unplausibel gewesen. In Singapur sei eine Treuhänderin namens Citadelle Corporate Services Pte. Ltd. eingesetzt gewesen, deren Inhaber in Singapur eine Tanzbar betrieben habe. Die Musterbeklagte zu 2) habe die Verlässlichkeit des Treuhänders nicht hinterfragt. Sie habe im Jahr 2015 selbst gegenüber der Wirecard AG angeregt, „das Problem nicht bezahlter Forderungen“ mithilfe von Treuhandkonten zu lösen, und gleichzeitig „diese Gelder auf den Treuhandkonten“ als Zahlungsmittel und Zahlungsmitteläquivalente akzeptiert. Dadurch sei für bilanzkundige Leser der unzutreffende Eindruck entstanden, dass Wirecard über eine große Menge „an Bargeld“ verfüge. Zudem seien die Treuhandkonten falsch bilanziert gewesen. Von 2016 bis 2018 habe die Wirecard AG keine Saldenbestätigungen für Treuhandkonten über rund 1 Mrd. Euro vorlegen können. Die Musterbeklagte zu 2) habe öffentlich geäußerte Vorwürfe ignoriert. Sie habe nicht einmal die Echtheit und Existenz von Kontoauszügen von Treuhandkonten bzw. Banksaldenbestätigungen geprüft. Risiken sowie das unangemessene Risikomanagementsystem für das TPA-Geschäft habe sie niemals hinterfragt.
In Bezug auf das „Indien-Geschäft von Wirecard“ habe ein Informant im Jahr 2016 die Musterbeklagte zu 2) über massive Unregelmäßigkeiten in Kenntnis gesetzt, insbesondere davon, dass leitende Mitarbeiter von „Wirecard“ möglicherweise Betrug begangen haben könnten. Unter dem Codenamen „Projektring“ habe die Musterbeklagte zu 2) eine Untersuchung durch ihr „EY Fraud Team“ durchgeführt; die Feststellungen des Fraud Teams seien vom Prüfungsteam der Musterbeklagten zu 2) für das Jahr 2017 nicht ordnungsgemäß geprüft worden. Dem Verdacht hätte die Musterbeklagte zu 2) weiter nachgehen müssen, insbesondere hätte sie über diese Angelegenheit im Bestätigungsvermerk Angaben machen und aufklären müssen. Auch hätte zwingend offengelegt werden müssen, dass es „Wirecard“ an einem internen Kontrollsystem gemangelt habe. Die Musterbeklagte zu 2) habe der Wirecard AG vorsätzlich für die Jahre 2015 bis 2018 falsche Bestätigungsvermerke erteilt.
Verwiesen werde klägerseits unter anderem auf den „Abschlussbericht des dritten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags vom 22.06.2021“ einschließlich des von den Ermittlungsbeauftragten erstellten sogenannten „Wambach-Berichts“ und auf den im Auftrag der Wirecard AG erstellten sogenannten KPMG-Bericht.
In rechtlicher Hinsicht wird in der Begründung des Vorlagebeschlusses in Bezug auf die Zulässigkeit der zugrunde liegenden Musterfeststellungsanträge ausgeführt, der Anwendungsbereich des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes sei eröffnet, weil es sich bei den Geschäftsberichten 2014 bis 2018 und den Bestätigungsvermerken um öffentliche Kapitalmarktinformationen im Sinne von § 1 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 5 KapMuG (a. F.) handele.
Der Senat hat mit Beschluss vom 13. März 2023 darauf hingewiesen, dass die in den Vorlagebeschluss aufgenommenen Feststellungsziele – auch in der gebotenen Gesamtschau mit der Darstellung des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts – jedenfalls zum Teil nicht hinreichend bestimmt sein dürften.
Mit Beschluss vom 5. Juni 2024 hat der Senat angeordnet, dass über die Zulässigkeit der Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses des Landgerichts München I vom 14. März 2022 (Az.: 3 OH 2767/22 KapMuG) abgesondert verhandelt wird, und dies durch Veröffentlichung im Klageregister am 10. Juni 2024 bekannt gemacht. Der Termin zur abgesonderten Verhandlung wurde am 10. Juni 2024, der Ort der Verhandlung am 10. September 2024 festgelegt und durch Veröffentlichung im Klageregister am 10. Juni 2024 bzw. 16. September 2024 bekannt gemacht.
Wegen des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung vom 22. November 2024 wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
B.
Der Senat weist die unstatthaften oder aus anderen Gründen unzulässigen Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses durch einen Teil-Musterentscheid zurück. Der Teil-Musterentscheid ergeht nicht gegenüber dem Musterbeklagten zu 7), gegen den das Musterverfahren aufgrund des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der ursprünglichen Musterbeklagten zu 7) unterbrochen ist (§ 3 Abs. 1 EGZPO i. V. m. § 240 ZPO), und entfaltet keine Bindungswirkung für die gegen die ursprüngliche Musterbeklagte zu 7) eingeleiteten und nach § 8 Abs. 1 KapMuG a. F. ausgesetzten Ausgangsverfahren.
Die im Tenor unter Ziffer I aufgeführten Feststellungsziele sind unstatthaft. Die Feststellungsziele in Abschnitt B des Vorlagebeschlusses sind jeweils auf die Feststellung anspruchsbegründender Voraussetzungen von Schadensersatzansprüchen gegen die Musterbeklagte zu 2) im Zusammenhang mit der im Rahmen von Pflichtprüfungen nach §§ 316 ff. HGB erfolgten Erteilung uneingeschränkter Bestätigungsvermerke zu den Konzernabschlüssen und Konzernlageberichten der Wirecard AG für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 gerichtet, welche nicht in den Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG a. F. fallen. Entsprechendes gilt für das Feststellungsziel C, soweit die begehrte Feststellung sich auf Schadensersatzansprüche gegen die Musterbeklagte zu 2) bezieht. Unstatthaft ist auch das Feststellungsziel A II 4 a, soweit es auf die Feststellung gerichtet ist, dass § 400 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AktG a. F. Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB darstellen, denn die zugrunde liegenden Schadensersatzansprüche fallen nicht in den Anwendungsbereich des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes.
Die unter Ziffer II des Tenors genannten Feststellungsziele sind unzulässig. Sie genügen entweder nicht den Bestimmtheitsanforderungen oder für die begehrte Feststellung fehlt das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis oder es handelt sich nicht um taugliche Feststellungsziele im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F.
I.
Das Bayerische Oberste Landesgericht ist für das vorliegende Kapitalanleger-Musterverfahren, auf das das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz in seiner bis einschließlich 19. Juli 2024 geltenden Fassung anwendbar ist, zuständig.
1. |
Auf das Musterverfahren ist gemäß § 30 Abs. 2 KapMuG das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz in seiner bis einschließlich 19. Juli 2024 geltenden Fassung anzuwenden. Denn der zugrunde liegende Musterverfahrensantrag ist nach der in der Begründung des Vorlagebeschlusses mitgeteilten Verfahrensgeschichte am 13. Juli 2021 und damit vor dem maßgeblichen Stichtag 20. Juli 2024 beim Landgericht München I eingegangen. Entsprechendes gilt für den Antrag vom 11. August 2021, mit dem der Musterverfahrensantrag um weitere Feststellungsziele erweitert worden ist. |
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2. |
Hinsichtlich des in Österreich ansässigen Musterbeklagten zu 1) ergibt sich die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte, die in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen ist (vgl. BGH, Beschl. v. 20. Februar 2024, XI ZB 33/21, NZG 2024, 837 Rn. 25), aus Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO. Soweit der Musterkläger und die Beigeladenen in den gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F. ausgesetzten Ausgangsverfahren Schadensersatzansprüche gegen den Musterbeklagten zu 1) geltend machen, handelt es sich dabei um Ansprüche aus unerlaubter Handlung im Sinne von Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO.
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3. |
Die Zuständigkeit des Bayerischen Obersten Landesgerichts ergibt sich aus § 30 Abs. 2 KapMuG in Verbindung mit § 6 Abs. 6 Satz 1 und 2 KapMuG a. F., § 3 Nr. 23 der Verordnung über die Zuständigkeit zum Erlass von Rechtsverordnungen (Delegationsverordnung – DelV) in der vom 1. Mai 2019 bis 30. April 2021 geltenden Fassung sowie § 8 der Verordnung über gerichtliche Zuständigkeiten im Bereich des Staatsministeriums der Justiz (Gerichtliche Zuständigkeitsverordnung Justiz – GZVJu) in der durch Änderungsverordnung vom 6. April 2020 (GVBl. S. 205) geänderten Fassung. Auf den Senatsbeschluss vom 28. Februar 2025 wird ergänzend Bezug genommen. |
II.
Entgegen der von der Musterbeklagten zu 2) im Schriftsatz vom 31. Oktober 2023 vertretenen Ansicht ist das Musterverfahren nicht deshalb insgesamt unzulässig, weil keine zehn gleichgerichteten Musterverfahrensanträge gegen den Musterbeklagten zu 1) vorgelegen hätten oder die Klage in dem Ausgangsrechtsstreit vor dem Landgericht München I mit dem Aktenzeichen 3 O 5875/20, in dem der Musterverfahrensantrag gestellt worden ist, unschlüssig und der Ausgangsrechtsstreit damit entscheidungsreif gewesen wäre. Die Überprüfung der damit als fehlend gerügten Vorlagevoraussetzungen ist dem für das Musterverfahren zuständigen Gericht aufgrund seiner Bindung an den Vorlagebeschluss (§ 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F.) entzogen.
Nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers soll das mit einem Musterverfahren befasste Gericht nicht dazu berufen sein, die Vorlagevoraussetzungen zu prüfen (vgl. BGH, Beschl. v. 9. März 2017, III ZB 135/15, WM 2017, 706 Rn. 9 unter Verweis auf BT-Drs. 15/5091, S. 23 zu § 4 Abs. 1 Satz 2 KapMuG in der bis 1. November 2012 gültigen Erstfassung; Reuschle in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl. 2022, § 6 KapMuG Rn. 25). Für die am 1. November 2012 in Kraft getretene Neufassung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes ist ein geänderter Wille des Gesetzgebers nicht zu erkennen (BGH a. a. O. unter Verweis auf BT-Drs. 17/8799, S. 19 f.).
III.
Die mit Senatsbeschluss vom 5. Juni 2024 getroffene Anordnung, dass über die Zulässigkeit der Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses des Landgerichts München I vom 14. März 2022 (Az.: 3 OH 2767/22 KapMuG) abgesondert verhandelt wird, findet ihre Rechtsgrundlage in § 11 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F. in Verbindung mit § 280 Abs. 1 ZPO analog. Auf das Musterverfahren sind die im ersten Rechtszug für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften der Zivilprozessordnung (§§ 253 ff. ZPO) entsprechend anzuwenden, soweit nichts anderes bestimmt ist. Die Vorschrift des § 280 ZPO wird in § 11 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F. nicht von der Anwendbarkeit ausgenommen.
IV.
Die im Musterverfahren nicht statthaften oder aus anderen Gründen unzulässigen Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses können durch Teil-Musterentscheid zurückgewiesen werden. Dem steht auch nicht entgegen, dass Verfahrensbeteiligte die Erweiterung des Musterverfahrens um weitere Feststellungsziele beantragt haben und der Senat über diese Erweiterungsanträge noch nicht durch Beschluss nach § 15 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F. entschieden hat. Die weiteren Feststellungsziele, um die das Musterverfahren nach den Anträgen mehrerer Verfahrensbeteiligter erweitert werden soll, sind derzeit nicht Gegenstand des Musterverfahrens.
1. |
Im Musterverfahren ist ein Teil-Musterentscheid gemäß § 11 Abs. 1 KapMuG a. F. in Verbindung mit § 301 Abs. 1 ZPO grundsätzlich zulässig (BGH, Beschl. v. 21. Juli 2020, II ZB 19/19, ZIP 2020, 1879 Rn. 17 ff.; Kruis in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 11 KapMuG Rn. 63; Vollkommer in Kölner Kommentar zum KapMuG, 2. Aufl. 2014, § 11 Rn. 133). Die Anwendung von § 301 ZPO ist nicht gemäß § 11 Abs. 1 KapMuG a. F. von dem allgemeinen Verweis auf die für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften der Zivilprozessordnung ausgenommen (BGH ZIP 2020, 1879 Rn. 18 m. w. N.). |
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2. |
Der Erlass einer Teilentscheidung im Sinne von § 301 ZPO setzt voraus, dass der Streitgegenstand teilbar ist. Die Frage der Teilbarkeit des Streitgegenstands stellt sich bei einer Entscheidung über einzelne Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses deshalb nicht, weil jedes Feststellungsziel im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F. einen eigenen Streitgegenstand des Musterverfahrens bildet (vgl. BGH ZIP 2020, 1879 Rn. 19; Beschl. v. 19. September 2017, XI ZB 17/15, BGHZ 216, 37 Rn. 32; Großerichter in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 2 KapMuG Rn. 5). Seit der Neufassung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes vom 19. Oktober 2012 wird der Streitgegenstand eines Musterverfahrens durch das in § 2 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F. legaldefinierte Feststellungsziel bestimmt, das der Vorlagebeschluss (§ 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 KapMuG a. F.) formuliert hat oder das durch einen Erweiterungsbeschluss (§ 15 Abs. 1 KapMuG a. F.) zum Gegenstand des Musterverfahrens geworden ist (vgl. BGHZ 216, 37 Rn. 32 m. w. N.). Der Gesetzgeber hielt zwar unter Verweis auf unterschiedliche Ansichten in der damaligen Literatur die Frage, was der Gegenstand des Musterverfahrens sei, für noch nicht abschließend geklärt (vgl. BT-Drs. 17/8799 S. 23). Diese Klärung ist aber nunmehr durch die höchstrichterliche Rechtsprechung erfolgt. Entsprechend dem Zweck des Musterverfahrens, die in den einzelnen Feststellungszielen unterbreiteten Fragen mit Bindungswirkung für die Prozessgerichte in allen nach § 8 Abs. 1 KapMuG a. F. ausgesetzten Verfahren zu klären (§ 22 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 KapMuG a. F.), bildet jedes Feststellungsziel im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F., also jede gesondert begehrte Feststellung zum Vorliegen oder Nichtvorliegen einer anspruchsbegründenden oder anspruchsausschließenden Voraussetzung oder zur Klärung einer Rechtsfrage, ein gesondertes Rechtsschutzbegehren und mithin einen eigenständigen Streitgegenstand des Musterverfahrens (vgl. BGHZ 216, 37 Rn. 32). |
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3. |
Soweit die Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses unstatthaft oder aus anderen Gründen unzulässig sind, ist das vorliegende Musterverfahren entscheidungsreif. Entgegen der Ansicht des Musterbeklagten zu 8) ist das Musterverfahren nicht insgesamt entscheidungsreif; denn die mit dem Teil-Musterentscheid nicht zurückgewiesenen Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses sind zulässig (dazu IX.). Einer Entscheidung über die zulässigen Feststellungsziele in der Sache steht der Verfahrensstand entgegen (dazu b]).
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4. |
Die Zurückweisung der unstatthaften oder aus anderen Gründen unzulässigen Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses durch einen Teil-Musterentscheid ist auch nicht im Hinblick auf die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen im weiteren Verlauf des vorliegenden Musterverfahrens unzulässig (vgl. hierzu BGH ZIP 2020, 1879 Rn. 19; OLG Braunschweig, Beschl. v. 12. August 2019, 3 Kap 1/16, ZIP 2019, 1829 [juris Rn. 37]; Vollkommer in Kölner Kommentar zum KapMuG, § 11 Rn. 135).
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5. |
Der Ansicht des Musterbeklagten zu 8), es seien sämtliche Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses in Bezug auf ihn als unzulässig zurückzuweisen, weil es sich bei den gegen ihn geführten und nach § 8 Abs. 1 KapMuG a. F. ausgesetzten Ausgangsverfahren um Tabellenfeststellungsklagen im Sinne von §§ 179 ff. InsO handele, welche nicht in den Anwendungsbereich des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes fielen, folgt der Senat nicht.
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6. |
Die Zurückweisung der unstatthaften oder aus anderen Gründen unzulässigen Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses durch einen Teil-Musterentscheid erachtet der Senat für sachgerecht.
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V.
Die in Abschnitt B des Vorlagebeschlusses enthaltenen Feststellungsziele sowie das Feststellungsziel D 1 sind unstatthaft, weil damit das Vorliegen anspruchsbegründender Voraussetzungen für Schadensersatzansprüche gegen die Musterbeklagte zu 2) im Zusammenhang mit deren Tätigkeit als Abschlussprüferin für die Wirecard AG im Rahmen von Pflichtprüfungen nach §§ 316 ff. HGB festgestellt werden soll, welche nicht in den Anwendungsbereich des – im vorliegenden Fall allein in Betracht kommenden – § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG a. F. fallen. Entsprechendes gilt für das Feststellungsziel C, soweit dieses sich auf gegen die Musterbeklagte zu 2) geltend gemachte Schadensersatzansprüche bezieht.
Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses (§ 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F.) verwehrt dem Senat nicht die Überprüfung, ob ein darin enthaltenes Feststellungsziel Gegenstand eines Kapitalanleger-Musterverfahrens sein kann (dazu 1.). Die Feststellungsziele des Abschnitts B sind dahin auszulegen, dass sie ausschließlich auf die Feststellung anspruchsbegründender Voraussetzungen für Schadensersatzansprüche gegen die Musterbeklagte zu 2) wegen Beihilfe zu kapitalmarktrechtlichen Pflichtverletzungen der Wirecard AG gerichtet sind (dazu 2. b]). Insoweit fehlt es an dem von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG a. F. vorausgesetzten unmittelbaren Bezug der geltend gemachten Schadensersatzpflicht der Musterbeklagten zu 2) zu der jeweils als falsch, irreführend oder unterblieben beanstandeten öffentlichen Kapitalmarktinformation der Wirecard AG (dazu 3. b]). Die Feststellungsziele C und D 1 beziehen sich nach dem Ergebnis der Auslegung (dazu 2. c] und d]) jeweils auch auf gegen die Musterbeklagte zu 2) geltend gemachte Schadensersatzansprüche wegen täterschaftlich begangener Delikte durch Erteilung uneingeschränkter Bestätigungsvermerke über die Prüfung der Konzernabschlüsse und Konzernlageberichte der Wirecard AG für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 im Rahmen einer Pflichtprüfung nach §§ 316 ff. HGB. Auch insoweit fehlt es an dem erforderlichen unmittelbaren Bezug der geltend gemachten Schadensersatzpflicht zu einer öffentlichen Kapitalmarktinformation, weil es sich bei dem Bestätigungsvermerk nicht um eine öffentliche Kapitalmarktinformation des Abschlussprüfers handelt (dazu 3. a]).
1. |
Ungeachtet der Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses (§ 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F.) ist das für die Führung des Musterverfahrens zuständige Gericht befugt, das Vorliegen der allgemeinen Prozessvoraussetzungen zu prüfen. Der Gesetzgeber hat mit der Vorgabe der Bindungswirkung zwar das Risiko in Kauf genommen, dass rechtsfehlerhaft eingeleitete oder unzweckmäßige Musterverfahren durchgeführt werden. Er zwingt dem für das Musterverfahren zuständigen Gericht die Durchführung jedoch dann nicht auf, wenn notwendige allgemeine Verfahrensvoraussetzungen fehlen (vgl. BGH, Beschl. v. 4. Mai 2017, III ZB 62/16, AG 2017, 543 Rn. 13; Beschl. v. 9. März 2017, WM 2017, 706 Rn. 13; BGHZ 216, 37 Rn. 66). Das Gericht ist insbesondere nicht an der Überprüfung gehindert, ob ein Feststellungsziel des Vorlagebeschlusses Gegenstand eines Kapitalanleger-Musterverfahrens sein kann. Vielmehr kann es prüfen, ob es sich bei dem zugrunde liegenden Anspruch um eine musterverfahrensfähige kapitalmarktrechtliche Streitigkeit im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 KapMuG a. F. handelt (vgl. BGH, Beschl. v. 12. Oktober 2021, XI ZB 31/19, ZIP 2021, 2531 Rn. 44; BGH ZIP 2021, 346 Rn. 154; Beschl. v. 23. Oktober 2018, XI ZB 3/16, BGHZ 220, 100 Rn. 70). |
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2. |
Die Feststellungsziele bedürfen der Auslegung. Die in Abschnitt B des Vorlagebeschlusses enthaltenen Feststellungsziele sowie das Feststellungsziel D 1 haben sämtlich das Vorliegen anspruchsbegründender Voraussetzungen – auch prozessualer Natur – von Schadensersatzansprüchen gegen die Musterbeklagte zu 2) zum Gegenstand, wobei der Musterbeklagten zu 2) jeweils die Erteilung uneingeschränkter Bestätigungsvermerke über die Prüfung der Konzernabschlüsse und Konzernlageberichte der Wirecard AG für die Geschäftsjahre 2014 bis 2018 im Rahmen einer Pflichtprüfung nach den §§ 316 ff. HGB vorgeworfen wird. Das weit gefasste Feststellungsziel C ist dahin auszulegen, dass damit auch eine anspruchsbegründende Voraussetzung für die vorgenannten Ansprüche gegen die Musterbeklagte zu 2) festgestellt werden soll.
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3. |
Die begehrten Feststellungen zu anspruchsbegründenden Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs gegen die Musterbeklagte zu 2) wegen der Erteilung uneingeschränkter Bestätigungsvermerke über die Prüfung von Konzernabschlüssen und Konzernlageberichten der Wirecard AG können nicht Gegenstand eines Feststellungsziels in einem Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz in der maßgeblichen, bis einschließlich 19. Juli 2024 geltenden Fassung sein. Denn Schadensersatzansprüche gegen den Abschlussprüfer im Zusammenhang mit der Durchführung einer Pflichtprüfung nach den §§ 316 ff. HGB fallen nicht in den Anwendungsbereich des allein in Betracht kommenden § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG a. F. Die Anwendungsfälle dieser Norm sind vielmehr auf Schadensersatzansprüche gegen Emittenten und sonstige Personen beschränkt, die dazu verpflichtet sind oder es freiwillig übernommen haben, den Kapitalmarkt zu informieren. Soweit Schadensersatzansprüche gegen den Abschlussprüfer auf eine täterschaftliche Verletzung eigener Prüfpflichten gestützt werden, kommt als öffentliche Kapitalmarktinformation, an welche die Haftung geknüpft werden soll, nur der erteilte Bestätigungsvermerk in Betracht. Dieser stellt jedoch keine öffentliche Kapitalmarktinformation des Abschlussprüfers im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG a. F. dar (dazu a]). Schadensersatzansprüche gegen den Abschlussprüfer wegen Beihilfe zu einer kapitalmarktrechtlichen Pflichtverletzung der geprüften Kapitalgesellschaft durch Erteilung uneingeschränkter Bestätigungsvermerke knüpfen dagegen an falsche oder irreführende Kapitalmarktinformationen des geprüften Unternehmens an, mithin an falsche oder irreführende Informationen eines Dritten. Insoweit fehlt es jedoch an dem erforderlichen unmittelbaren Bezug der Haftung des Abschlussprüfers zu der als falsch, irreführend oder unterlassen beanstandeten öffentlichen Kapitalmarktinformation (dazu b]).
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VI.
Mit dem Feststellungsziel A II 4 a wird die Feststellung begehrt, dass § 400 AktG (in der bis einschließlich 31. Dezember 2019 geltenden Fassung, im Folgenden: a. F.) Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB sei. Dieses Feststellungsziel ist unstatthaft, soweit die Schutzgesetzeigenschaft von § 400 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AktG a. F. festgestellt werden soll, weil die der zu klärenden Rechtsfrage zugrunde liegenden Schadensersatzansprüche nicht in den Anwendungsbereich des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes fallen.
1. |
Wie bereits unter V. 1. näher ausgeführt, greift die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses nicht ein, wenn der geltend gemachte Anspruch nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann (BGH AG 2017, 543 Rn. 10 m. w. N.; BGH WM 2017, 706 Rn. 10 m. w. N.; vgl. auch BGH, WM 2022, 2137 Rn. 44 ff.). |
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2. |
Mit dem Feststellungsziel A II 4 a soll – wie der Zusammenhang mit dem nachfolgenden Feststellungsziel A II 4 b erkennen lässt – eine anspruchsbegründende Voraussetzung für einen deliktischen Schadensersatzanspruch gegen den Musterbeklagten zu 1) aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 400 AktG a. F. festgestellt werden. Ein auf die Verwirklichung der Straftatbestände des § 400 Abs. 1 Nr. 2 oder des § 400 Abs. 2 AktG a. F. gestützter Schadensersatzanspruch fällt jedoch nicht in den Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG a. F., weil die geltend gemachte Schadensersatzpflicht nicht unmittelbar an die Publikation oder die Veranlassung einer für die Öffentlichkeit bestimmten Kapitalmarktinformation anknüpft (vgl. BGH WM 2022, 2137 Rn. 47; BGHZ 220, 100, Rn. 72; BGH WM 2009, 110 Rn. 12; BGHZ 177, 88 Rn. 15).
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VII.
Die im Beschlusstenor unter Ziffer II aufgeführten Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses sind – mit Ausnahme der infolge fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässigen Feststellungsziele A II 3 a, A II 4 a und D 2 (dazu VIII.) – mangels Bestimmtheit gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F. in Verbindung mit § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO als unzulässig zurückzuweisen.
Mangels hinreichender Bestimmtheit unzulässig sind auch die ohnehin unstatthaften Feststellungsziele des Abschnitts B des Vorlagebeschlusses mit Ausnahme der für sich genommen den Bestimmtheitsanforderungen genügenden Unterfeststellungsziele B III 1 a und b.
1. |
Ein zu unbestimmt formuliertes Feststellungsziel des Vorlagebeschlusses ist – wie im Abschnitt „Zulässigkeit des Teil-Musterentscheids“ unter IV. 4. d) bb) (1) (a) ausgeführt – ohne Sachentscheidung nach § 11 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F. i. V. m. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO als unzulässig zurückzuweisen (BGH ZIP 2023, 1683 Rn. 51; ZIP 2018, 578 Rn. 56 jeweils m. w. N.). Dem steht die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses nach § 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F. nicht entgegen (BGHZ 230, 240 Rn. 22; BGHZ 216, 37 Rn. 66). Das für die Führung des Musterverfahrens zuständige Gericht ist – wie unter V. 1. ausgeführt – befugt, das Vorliegen der allgemeinen Prozessvoraussetzungen zu prüfen. Da der Vorlagebeschluss im Musterverfahren an die Stelle einer verfahrenseinleitenden Klageschrift tritt, müssen die dort aufgenommenen Feststellungsziele die zu treffenden Feststellungen ebenso bestimmt bezeichnen und eindeutig erkennen lassen, welcher Umstand bzw. welches Ereignis Gegenstand der rechtlichen Prüfung im Musterverfahren sein soll (vgl. BGH ZIP 2023, 1683 Rn. 52; WM 2021, 285 Rn. 66; ZIP 2018, 2307 Rn. 33). Ein Feststellungsziel darf nicht derart undeutlich gefasst sein, dass der Streitgegenstand und der Umfang der Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis des Gerichts (§ 308 Abs. 1 ZPO, § 11 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F.) nicht erkennbar abgegrenzt sind, sich der Musterbeklagte deshalb nicht erschöpfend verteidigen kann und die Entscheidung darüber, was mit Bindungswirkung für die Ausgangsverfahren feststeht (§ 22 Abs. 1 KapMuG a. F.), letztlich den Prozessgerichten der ausgesetzten Verfahren überlassen bleibt (BGH ZIP 2023, 1683 Rn. 52; WM 2021, 285 Rn. 66; BGHZ 216, 37 Rn. 64). Ein Feststellungsziel des Inhalts, dass eine öffentliche Kapitalmarktinformation falsch oder irreführend sei, muss erkennen lassen, auf welche beanstandete Aussage oder Auslassung der Kapitalmarktinformation es sich bezieht und welche Unrichtigkeit, Irreführung oder Unvollständigkeit konkret damit gemeint sein soll (vgl. zu Prospektfehler betreffende Feststellungszielen: BGH, Beschl. v. 17. Dezember 2020, II ZB 31/14, [juris Rn. 365; insoweit in WM 2021, 285 nicht abgedruckt]; BGHZ 216, 37 Rn. 65; BGH ZIP 2018, 578 Rn. 57; Großerichter in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 2 KapMuG Rn. 13). Soll die Unrichtigkeit hinsichtlich mehrerer Aussagen festgestellt werden, handelt es sich bei jeder angeblich fehlerhaften oder unzureichenden Aussage um ein eigenständiges Feststellungsziel, das die Bestimmtheitsanforderungen zu erfüllen hat. Dazu ist grundsätzlich erforderlich, dass das Feststellungsziel die beanstandete Aussage oder Auslassung der Kapitalmarktinformation selbst wiedergibt oder die konkrete Fundstelle im Prospekt nennt (vgl. BGHZ 216, 37 Rn. 65). Davon kann abgesehen werden, wenn sich aus dem Feststellungsziel ergibt, auf welche Prospektstellen es sich bezieht (BGH, Beschl. v. 12. November 2024, XI ZB 26/20, WM 2025, 165 Rn. 65; Beschl. v. 30. März 2021, XI ZB 3/18, WM 2021, 1221 Rn. 38 f.). Entsprechendes gilt, wenn es sich um andere Informationsträger handelt. Dazu ist weiter erforderlich, dass das Feststellungsziel den Gegenstand des Musterverfahrens klar abgrenzt, indem es erkennen lässt, welche Fehler konkret gemeint sind (BGH ZIP 2018, 578 Rn. 57). Genügt das Feststellungsziel für sich genommen diesem Anspruch nicht, ist zu seiner Auslegung die im Vorlagebeschluss enthaltene Darstellung des den Musterverfahrensanträgen zugrundeliegenden gleichen Lebenssachverhalts (§ 6 Abs. 3 KapMuG a. F.) und der darin wiedergegebene Parteivortrag, der die Rügen der Beteiligten enthält, heranzuziehen. Denn zur Auslegung des Feststellungsziels kann das rechtliche und tatsächliche Vorbringen herangezogen werden, das es ausfüllen soll (BGHZ 216, 37 Rn. 57; BGHZ 203, 1 Rn. 133), wobei Ausgangspunkt für diese Auslegung der Vorlagebeschluss gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F. ist, der neben den Feststellungszielen im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F. eine knappe Darstellung des den Musterverfahrensanträgen zugrundeliegenden gleichen Lebenssachverhalts (§ 6 Abs. 3 KapMuG a. F.) und gegebenenfalls die Rügen der Beteiligten enthält. Das für das Musterverfahren zuständige Gericht hat – gegebenenfalls nach Auslegung des Feststellungsziels und Feststellung des ihm zu Grunde liegenden Sachverhalts – seine rechtliche Prüfung an diesen Anforderungen zu orientieren (vgl. BGH WM 2021, 285 Rn. 67; ZIP 2018, 2307 Rn. 33 m. w. N.). Dagegen ist es nicht Aufgabe des für das Musterverfahren zuständigen Gerichts, den Gegenstand des Feststellungsziels aus dem Vorbringen der Parteien im Musterverfahren zu ermitteln (vgl. BGHZ 216, 37 Rn. 65; a. A. Fullenkamp in Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2. Aufl. 2020, § 6 Rn. 25; Kruis, WuB 2018, 299, [301 f.]). Dies folgt schon aus der fehlenden Dispositionsbefugnis einzelner Beteiligter über den durch den Vorlagebeschluss vorgegebenen Verfahrensgegenstand des Musterverfahrens (BGH WM 2021, 285 Rn. 68; BGHZ 216, 37 Rn. 69; Vollkommer in Kölner Kommentar zum KapMuG, § 6 Rn. 58). Die im Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz angelegte Begrenzung des Musterverfahrens auf die für die Ausgangsverfahren entscheidungserheblichen Fragen würde unterlaufen, wenn die Beteiligten des Musterverfahrens ein nicht hinreichend bestimmtes Feststellungsziel allein durch ihren Vortrag im Musterverfahren näher ausformen könnten (BGHZ 230, 240 Rn. 22 m. w. N.). Bleibt nach der Auslegung die Reichweite eines Feststellungsziels unklar, genügt es nicht den Anforderungen nach § 11 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F. in Verbindung mit § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. So hat der Bundesgerichtshof die Formulierung, ein Gutachten sei „nicht ordnungsgemäß erstellt“, als nicht hinreichend bestimmt angesehen, weil sie den konkreten Fehler bei der Erstellung des Gutachtens nicht benannte und nicht ausgeschlossen werden konnte, dass sich der Musterkläger durch eine weite Fassung des Feststellungsziels die Möglichkeit offen halten wollte, weitere Kritikpunkte an dem Gutachten in dieses Feststellungsziel einfließen zu lassen (BGH ZIP 2023, 1683 Rn. 53 f.). Lässt sich ein Feststellungsziel nicht konkretisieren, ist es als unbestimmt zurückzuweisen. Eine andere Betrachtung würde es den Beteiligten des Musterverfahrens eröffnen, die maßgeblichen Umstände erst im Verlauf des Musterverfahrens zu behaupten oder gar beliebig auszutauschen und damit den Streitgegenstand des Musterverfahrens erst später zu bestimmen oder zu verändern, obwohl der Streitgegenstand des Musterverfahrens durch den Vorlagebeschluss (§ 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 KapMuG a. F.) und etwaige Ergänzungsbeschlüsse (§ 15 Abs. 1 Satz 1 KapMuG a. F.) zu bestimmen ist (vgl. BGH, Beschl. v. 17. Dezember 2020, II ZB 31/14, [juris Rn. 246; insoweit in WM 2021, 285 nicht abgedruckt]). |
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2. |
Nach diesem Maßstab sind die unter A I des Vorlagebeschlusses vom 14. März 2022 aufgeführten Feststellungsziele sämtlich mangels ausreichender Bestimmtheit unzulässig.
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3. |
Von den in Abschnitt A II aufgeführten Feststellungszielen des Vorlagebeschlusses sind nach den oben dargelegten Grundsätzen die folgenden mangels hinreichender Bestimmtheit unzulässig: 1 a bis f, 2 c und d, das im Obersatz zu Ziffer 3 enthaltene Feststellungsziel, soweit § 331 Nr. 2 HGB in Bezug genommen wird, 3 b und c, das im Obersatz zu Ziffer 4 enthaltene Feststellungsziel, 4 b, 5, 6, 7, 8 und 9.
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4. |
Die unstatthaften (vgl. hierzu die Ausführungen unter V.) Feststellungsziele in Abschnitt B des Vorlagebeschlusses sind im Übrigen mit Ausnahme der für sich genommen den Bestimmtheitsanforderungen genügenden Unterfeststellungsziele B III 1 a und b mangels ausreichender Bestimmtheit unzulässig. Nach Wortlaut und Systematik des Vorlagebeschlusses sollen mit den Feststellungszielen dieses Abschnitts – wie unter V. 2. b) dargelegt – anspruchsbegründende objektive und subjektive Voraussetzungen einer Schadensersatzpflicht der Musterbeklagten zu 2) wegen Beihilfe zu einer Publizitätspflichtverletzung der Wirecard AG im Rahmen der Ad-hoc-Publizität (§§ 37b, 37c WpHG a. F.) bzw. der Regelpublizität (§ 37v WpHG a. F.) festgestellt werden.
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VIII.
Für die Feststellungsziele A II 3 a, A II 4 a, soweit letzteres die Schutzgesetzeigenschaft von § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG a. F. zum Gegenstand hat, und D 2 des Vorlagebeschlusses fehlt es an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis.
1. |
Zu den allgemeinen Prozessvoraussetzungen, zu deren Überprüfung das für das Musterverfahren zuständige Gericht ungeachtet der Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG a. F. befugt ist, gehört auch das Rechtsschutzbedürfnis, dessen Fehlen einen in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigenden Mangel darstellt und zur Unzulässigkeit des verfahrenseinleitenden Antrags führt (BGH AG 2017, 543 Rn. 13 m. w. N.; WM 2017, 706 Rn. 13 m. w. N.).
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2. |
Nach diesen Grundsätzen fehlt für das Feststellungsziel A II 3 a, mit dem die Feststellung begehrt wird, dass § 331 Nr. 1 und Nr. 2 HGB (in der jeweils gültigen alten Fassung) Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB seien, mangels Klärungsbedürftigkeit das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
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3. |
Soweit mit dem Feststellungsziel A II 4 a die Feststellung begehrt wird, dass § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG a. F. Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB sei, fehlt es mangels Klärungsbedürftigkeit dieser Rechtsfrage an dem erforderlichen Rechtschutzbedürfnis.
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4. |
Mit dem Feststellungsziel D 2 wird die Feststellung begehrt, dass Schadensersatzansprüche nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 KapMuG (a. F.) Ansprüche im Sinne des § 71 Abs. 2 Nr. 3 GVG (a. F.) sind. Für ein Feststellungsziel dieses Inhalts ist kein Rechtsschutzbedürfnis erkennbar, weil die begehrte Feststellung sich bereits unmittelbar aus dem Wortlaut der beiden vorgenannten Gesetzesbestimmungen ergibt.
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IX.
Wie unter IV. 3. a) dargelegt, sieht der Senat vom Erlass eines Zwischenentscheids über die von ihm als zulässig beurteilten Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses ab. Die von den Verfahrensbeteiligten erhobenen Bedenken gegen die Zulässigkeit der folgenden Feststellungsziele teilt der Senat nicht.
1. |
Für das im Obersatz zu A II 2 enthaltene Feststellungsziel, dass die Geschäftsberichte für die Jahre 2014 bis 2018 Jahresfinanzberichte im Sinne des § 37v WpHG a. F. seien, fehlt es hinsichtlich des Geschäftsberichts für das Jahr 2018 nicht deshalb an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis, weil für dieses Geschäftsjahr anstelle von § 37v WpHG a. F. bereits der in dem Feststellungsziel nicht in Bezug genommene § 114 WpHG gegolten habe. Das Feststellungsziel kann dahin konkretisierend ausgelegt werden, dass es sich auf die für das jeweilige Geschäftsjahr geltende Fassung der Norm bezieht. Ob die Wirecard AG wegen der Subsidiarität zur Regelpublizität nach handelsrechtlichen Vorschriften (§ 325 HGB) nicht verpflichtet war, einen Jahresfinanzbericht nach § 37v WpHG a. F. bzw. § 114 WpHG aufzustellen und zu veröffentlichen und welche rechtlichen Folgen sich hieraus ergeben, ist keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Begründetheit des Feststellungsziels. |
2. |
Hinsichtlich des Feststellungsziels A II 2 a wird zunächst auf die Ausführungen unter 1. verwiesen. Die Rechtsfrage, ob § 37v WpHG a. F. bzw. § 114 WpHG in der für das jeweilige Geschäftsjahr maßgeblichen Fassung Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB darstellen, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt. |
3. |
Für das Feststellungsziel A II 2 b, dass die Wirecard AG verpflichtet gewesen sei, einen Konzernabschluss und einen Konzernlagebericht im Sinne von § 37y WpHG a. F. aufzustellen, kann das Rechtsschutzbedürfnis nicht mit der Begründung verneint werden, dass die übrigen Feststellungsziele des Abschnitts A II 2 des Vorlagebeschlusses auf eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 37v WpHG a. F. abzielten. Im Übrigen wird auf die Ausführungen unter 1. verwiesen. |
4. |
Für das im Obersatz zu A II 3 enthaltene Feststellungsziel, dass die Geschäftsberichte für die Jahre 2014 bis 2018 Jahresabschlüsse im Sinne von § 331 Nr. 1 HGB a. F. darstellten, kann das Rechtsschutzbedürfnis nicht mit der Begründung verneint werden, dass ein Geschäftsbericht bereits begrifflich keinen Jahresabschluss darstelle. Dies betrifft die Frage der Begründetheit. |
5. |
Das Feststellungsziel C des Vorlagebeschlusses ist zulässig, soweit mit der begehrten Feststellung, dass der Kursdifferenzschaden ohne konkreten Kausalitätsnachweis ersatzfähig sei, eine anspruchsbegründende Voraussetzung eines Schadensersatzanspruchs gegen den Musterbeklagten zu 1) bzw. die Wirecard AG festgestellt werden soll. Wie unter V. 2. c) bb) dargelegt, ergibt die am objektiven Interesse der Antragsteller des Musterverfahrensantrags ausgerichtete Auslegung, dass mit diesem Feststellungsziel eine anspruchsbegründende Voraussetzung für die in anderen Feststellungszielen des Vorlagebeschlusses sowie in dessen Lebenssachverhalt genannten Schadensersatzansprüche gegen die Musterbeklagten zu 1) und 2) sowie die Wirecard AG festgestellt werden soll. Die begehrte Feststellung, dass der Kursdifferenzschaden ohne konkreten Kausalitätsnachweis ersatzfähig sei, kann dahin ausgelegt werden, dass es bei der Geltendmachung dieses Schadens nicht des Nachweises der Transaktionskausalität bedürfen solle. Eine gesicherte Rechtsprechung zu den Anforderungen an den Kausalitätsnachweis bei der Geltendmachung des Kursdifferenzschadens für alle von dem Feststellungsziel erfassten Anspruchsgrundlagen existiert nicht. |
C.
Eine Kostenentscheidung nicht veranlasst. Über die im Musterverfahren angefallenen Kosten entscheidet das jeweilige Prozessgericht (§ 16 Abs. 2 KapMuG a. F.).
D.
Es ergeht folgende
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diese Entscheidung kann Rechtsbeschwerde eingelegt werden (§ 20 Abs. 1 KapMuG a. F.).
Die Rechtsbeschwerde ist binnen einer Notfrist von einem Monat bei dem
Bundesgerichtshof |
einzulegen.
Die Frist beginnt mit der Zustellung der Entscheidung.
Die Rechtsbeschwerde wird durch Einreichen einer Rechtsbeschwerdeschrift eingelegt.
Die Rechtsbeschwerdeschrift muss die Bezeichnung der angefochtenen Entscheidung und die Erklärung enthalten, dass gegen diese Entscheidung Rechtsbeschwerde eingelegt werde.
Die Beteiligten müssen sich durch eine bei dem Bundesgerichtshof zugelassene Rechtsanwältin oder einen dort zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen.
Die Rechtsbeschwerde ist zudem binnen einer Frist von einem Monat zu begründen. Die Frist beginnt ebenfalls mit der Zustellung der angefochtenen Entscheidung.
Rechtsbehelfe können auch als elektronisches Dokument eingereicht werden. Eine einfache E-Mail genügt den gesetzlichen Anforderungen nicht.
Rechtsbehelfe, die durch eine Rechtsanwältin, einen Rechtsanwalt, durch eine Behörde oder durch eine juristische Person des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse eingereicht werden, sind ab 1. Januar 2022 als elektronisches Dokument einzureichen, es sei denn, dass dies aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich ist. In diesem Fall bleibt die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig, wobei die vorübergehende Unmöglichkeit bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen ist. Auf Anforderung ist das elektronische Dokument nachzureichen.
Das elektronische Dokument muss
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Ein elektronisches Dokument, das mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen ist, darf wie folgt übermittelt werden:
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Wegen der sicheren Übermittlungswege wird auf § 130a Absatz 4 der Zivilprozessordnung verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Voraussetzungen zur elektronischen Kommunikation mit den Gerichten wird auf die Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) in der jeweils geltenden Fassung sowie auf die Internetseite https://justiz.de verwiesen.
Dr. Schmidt Präsidentin des Bayerischen Obersten Landesgerichts |
Dr. Muthig Richterin am Bayerischen Obersten Landesgericht |
Dr. Schwegler Richterin am Bayerischen Obersten Landesgericht |
von Geldern-Crispendorf Richterin am Bayerischen Obersten Landesgericht |
Niklaus Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht |
Verkündet am 28. Februar 2025
Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle