Jahrhundertelang haben wir an das romantische Bild geglaubt: Eine italienische Nonna, die in ihrer winzigen Dorfküche hausgemachte Pasta mit einer jahrhundertealten Geheimrezeptur knetet, während die Sonne über den Weinbergen der Toskana untergeht. Doch haltet euren Parmesan fest – ein Historiker hat schlechte Nachrichten.
Laut Alberto Grandi, einem italienischen Lebensmittelhistoriker und leidenschaftlichen Partycrasher bei Familienessen, ist die „echte“ italienische Küche in ihrer heutigen Form kaum älter als eine Tiefkühlpizza. Seine These? Viele der vermeintlich uralten Rezepte wurden erst in den letzten Jahrzehnten erfunden – oft aus reiner Verzweiflung, improvisiert mit US-Armee-Rationen oder in Werbebüros zusammengeschustert.
Carbonara? Danke, Onkel Sam!
Ein besonders harter Schlag für Traditionalisten: Pasta alla Carbonara wurde laut Grandi nicht etwa von römischen Hirten entwickelt, sondern nach dem Zweiten Weltkrieg von Italienern, die mit amerikanischen Soldatenrationen herumexperimentierten. Anstatt edlem Guanciale und gereiftem Pecorino landeten Speck und Pulver-Eigelb aus US-Militärbeständen in der Pfanne.
Das klingt wie ein schlechter Witz für Italiener, die Carbonara mittlerweile mit religiösem Eifer verteidigen. „Jedes Mal, wenn jemand Sahne in Carbonara gibt, stirbt ein Römer“, scherzt Grandi – aber seien wir ehrlich, das könnte auch eine Drohung sein.
Pizza – einst Armeleute-Essen, heute nationale Ehre
Selbst die heilige Pizza bleibt von Grandis Enthüllungen nicht verschont. Im 19. Jahrhundert war Pizza in Neapel laut dem Pinocchio-Autor Carlo Collodi kaum mehr als „ein mit allem Möglichen belegtes, angebranntes Brot mit einem Hauch von komplexer Unreinheit“. Klingt nicht gerade nach Gourmetküche.
Doch es war in den USA, wo die Pizza wirklich durchstartete. Erst dort bekam sie ihre markante „rote“ Farbe – dank industrialisierter Tomatensauce. Amerikanische Italo-Einwanderer etablierten Pizzerien, entwickelten größere Portionen, dickeren Teig und (zu Italiens Schrecken) irgendwann auch die berüchtigte Ananas-Pizza.
Italienische Traditionalisten mögen sich die Hände ringen, aber ohne die USA wäre Pizza heute vermutlich immer noch ein trauriger Straßensnack mit schlechtem Image.
Tiramisu – das Dessert, das Supermärkte erfanden
Tiramisu, das vermeintlich uralte Traditionsdessert? Laut Grandi nicht älter als die Mondlandung. Es entstand in den späten 1960ern – dank Kühlschränken und Supermarktprodukten wie Mascarpone und Löffelbiskuits. Mit anderen Worten: Es könnte ohne moderne Kühltechnik nicht existieren.
Und doch verteidigen manche Italiener Tiramisu mit einer Inbrunst, als sei es direkt von Michelangelo in den Himmel gemalt worden.
Gastro-Nationalismus: Wenn Essen zur Ersatzreligion wird
Laut Grandi ist der italienische „Gastro-Nationalismus“ ein relativ neues Phänomen. Nach dem wirtschaftlichen Aufschwung in den 1950ern begannen Unternehmen, Lebensmittel nicht nur zu verkaufen, sondern mit einer Geschichte zu vermarkten. Was nicht alt war, musste alt aussehen.
Italiens Stolz auf seine Küche ist so groß, dass ausländische „Vergehen“ – wie gebrochenes Spaghetti oder Sahne in Carbonara – auf Social Media zu nationalen Krisen erklärt werden. Der TikTok-Kanal Italians Mad at Food dokumentiert empörte Italiener, die sich mit dramatischen Gesten über kulinarische Verbrechen echauffieren – mittlerweile eine eigene Comedy-Kategorie.
Fazit: Italiens Essen ist genial – aber weniger alt, als du denkst
Grandi betont, dass er nicht gegen italienisches Essen ist – im Gegenteil. Er will nur klarstellen, dass viele „Traditionen“ eher clevere Marketing-Erfindungen als historische Tatsachen sind.
„Wir müssen keine Geschichten über Italiens großartige Produkte erfinden“, sagt die junge Köchin Aurora Cavallo. „Das eigentliche Wunder ist, dass sich unsere Küche ständig weiterentwickelt.“
Also, beim nächsten Mal, wenn dir ein Italiener mit Handgesten erklärt, dass du niemals Meeresfrüchte mit Parmesan kombinieren darfst – erinnere ihn daran, dass die „echte“ italienische Küche vielleicht weniger echt ist, als er denkt. Und dann genieße dein Essen. Mit Sahne in der Carbonara.