Es fühlte sich an wie eine Rede, die auf X.com mit Sicherheit mit Community Notes versehen worden wäre.
US-Vizepräsident JD Vance betrat die Bühne in München, um den Totalitarismus in Europa anzuprangern. Doch nicht in Moskau – trotz der brutalen Invasion der Ukraine. Stattdessen galt seine Kritik den Verbündeten der Ukraine in der Europäischen Union. Die „Feinde im Inneren“, wie er sie nannte, seien diejenigen, die Oppositionelle inhaftierten und ihre eigenen Wähler fürchteten.
Für die meisten Zuhörer in München – und in ganz Europa – war dies der Moment, in dem eine Verschwörungstheorie begann, die an ein wirres Online-Manifest eines übermüdeten Internetnutzers erinnerte. Doch während viele gehofft hatten, mehr Details über die sich wandelnde Friedensstrategie der Trump-Regierung für die Ukraine zu erfahren, wurden sie stattdessen mit einer bizarren Mischung aus Kulturkampf-Rhetorik, haltlosen Behauptungen und Zweifeln an der Wahlintegrität in Europa konfrontiert.
Rumänien als Beispiel? Eine Verdrehung der Tatsachen
Vance stellte die jüngst annullierte Präsidentschaftswahl in Rumänien als Versuch dar, den Wählern ihre Entscheidung zu verweigern. Die Realität: Rumänien hatte lediglich die erste Runde der Wahl ausgesetzt, weil ein rechtsextremer, pro-russischer Kandidat mit hauchdünnem Vorsprung in die Stichwahl eingezogen war – und das unter nachweislicher Einmischung Russlands. Die rumänischen Gerichte bestätigten die Erkenntnisse der Geheimdienste, die eine erhebliche Einflussnahme durch Moskau belegten. Vance stellte sich also gegen die Rechtsstaatlichkeit in Rumänien und gegen Maßnahmen zur Bekämpfung prorussischer Manipulationen.
Es blieb unklar, wen Vance meinte, als er behauptete, dass europäische Verbündete ihre Gegner zensierten oder „ins Gefängnis steckten – sei es der Oppositionsführer, eine bescheidene Christin, die in ihrem Haus betet, oder ein Journalist, der einfach nur berichten will.“ Seine Worte erinnerten an Ostdeutschland in den 1950er-Jahren – eine Zeit, die für viele Europäer keine ferne Geschichte, sondern noch lebendige Erinnerung ist.
Missbrauch von Begriffen: Ein Affront für Osteuropäer
Vance warf Europa vor, sich „hinter hässlichen sowjetischen Begriffen wie Desinformation und Fehlinformation“ zu verstecken. Für viele im Raum, die aus Ländern kamen, die unter der brutalen Besatzung der Sowjetunion gelitten hatten, war dies eine absurde Belehrung. Sie brauchten keine Nachhilfe darüber, wie autoritäre Regime Lügen verbreiten, um ihre Unterdrückung zu rechtfertigen.
Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius reagierte prompt und wies Vance scharf zurück. Seine Worte seien „inakzeptabel“. Er widersprach „dem Eindruck, den Vizepräsident Vance erweckt hat, dass Minderheiten in unserer Demokratie unterdrückt oder zum Schweigen gebracht werden. Wir wissen nicht nur, gegen wen wir unser Land verteidigen, sondern auch, wofür.“
Die Rolle der Meinungsfreiheit in Europa und den USA
Vance fuhr mit einer breiten Kritik an der angeblichen Einschränkung der Meinungsfreiheit in Europa fort. Dabei verwies er auf einen Fall aus Großbritannien, bei dem ein Mann wegen stillen Gebets in der Nähe einer Abtreibungsklinik verhaftet worden sei. Tatsächlich verbietet ein neues britisches Gesetz politische Aktivitäten im Umkreis von 150 Metern um Abtreibungskliniken, um Belästigungen von Frauen zu verhindern – keineswegs ein Angriff auf das Gebet an sich.
Seine Vorwürfe trafen den Kern eines fundamentalen Unterschieds zwischen der Meinungsfreiheit in Europa und in den USA. In Europa ist die Meinungsfreiheit ein zentrales Recht, aber sie geht mit einer Verantwortung für die Sicherheit der Bürger einher. Europäische Rechtssysteme legen großen Wert darauf, dass eine falsche Behauptung – etwa ein nicht existierendes „Feuer“ in einem vollen Theater – nicht einfach mit Verweis auf freie Meinungsäußerung entschuldigt werden kann, wenn Menschen verletzt werden. In den USA erlaubt der Erste Verfassungszusatz, fast alles zu sagen – ungeachtet der Konsequenzen.
In der Smartphone-Ära und nach 9/11 haben viele europäische Staaten extremistische Inhalte im Netz eingeschränkt. In Deutschland ist es nach wie vor illegal, für den Nationalsozialismus zu werben – aus gutem Grund. Die europäische Presse bleibt dennoch äußerst lebendig und rebellisch, und selbst die Parteien, die Vance als „zum Schweigen gebracht“ bezeichnete, gewinnen an Popularität. Niemand wird tatsächlich unterdrückt.
Vances eigentliche Agenda: Populismus befeuern
Es war offensichtlich, dass Vance diese Tirade gezielt vorbereitet hatte – als Auftakt zur zweiten Trump-Administration, die den Populismus in Europa erneut anfachen will. Doch das europäische Publikum ist inzwischen erfahrener. Nach Trumps erster Amtszeit sind einige populistische Experimente bereits gescheitert – wie in Großbritannien, wo die Konservative Partei aus der Regierung gefegt wurde.
Vance sprach vor einem Saal voller Menschen, die sich der Bedrohung bewusst sind, die der extreme Rechtspopulismus für die Demokratie darstellt. Seine kaum verhüllte Fremdenfeindlichkeit, mit der er die Herausforderungen der Migration beschrieb, stieß auf Ablehnung.
Doch die größte, unausgesprochene Präsenz im Raum war die von Wladimir Putin. Die Vergehen, die Vance Europa vorwarf, geschehen in Wirklichkeit in Russland. Doch Putin erwähnte er nicht. Die Ukraine kam nur am Rande vor. Die „Bösen“ in Vances Rede waren nicht die Autokraten in Moskau, sondern Amerikas eigene Verbündete.
Geschichtliche Blindheit in München
Es braucht kein tiefes historisches Wissen, um zu erkennen, wie gefährlich eine solche Rhetorik in München ist. Europa hat diese Art von Hetze schon erlebt. George Orwell schrieb 1949, als die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch frisch waren: Das „letzte, wichtigste Gebot“ der totalitären Partei sei es, „die Beweise deiner eigenen Augen und Ohren zurückzuweisen.“
Vance forderte genau das – und stellte es als Tugend dar.