Eine BBC-Untersuchung hat aufgedeckt, dass der Energiekonzern Shell wiederholt Warnungen ignoriert haben soll, die auf gravierende Probleme und Korruption bei einem groß angelegten Reinigungsprojekt im ölverschmutzten Süden Nigerias hinwiesen. Das Projekt, das vor rund acht Jahren zur Sanierung von Ogoniland im Nigerdelta gestartet wurde, gilt seitdem als Aushängeschild für Umweltmaßnahmen in der Region. Shell und die nigerianische Regierung betonten immer wieder, dass die Aufräumarbeiten erfolgreich verlaufen würden. Doch interne Dokumente und Aussagen von Whistleblowern zeichnen ein anderes Bild.
Ein Milliardenprojekt unter Verdacht
Das Reinigungsprojekt, das mit rund 1 Milliarde US-Dollar von verschiedenen Ölkonzernen, darunter auch Shell, finanziert wird, sollte die Region von den Folgen jahrzehntelanger Ölverschmutzungen befreien. Doch laut den Recherchen der BBC leidet das Projekt seit Jahren unter Missmanagement, Betrug und ineffektiven Maßnahmen. Ein enger Beobachter des Projekts bezeichnete die Aufräumarbeiten als „Betrug“ und „Abzocke“, die nicht nur Gelder verschwendet, sondern auch die Menschen in Ogoniland weiterhin mit den verheerenden Auswirkungen der Ölverschmutzung zurückgelassen habe – 13 Jahre, nachdem ein bahnbrechender UN-Bericht das Ausmaß der Katastrophe offengelegt hatte.
Whistleblower packt aus: „Alles nur ein Schwindel“
Ein Whistleblower, der anonym bleiben möchte, erklärte gegenüber der BBC: „Es ist allgemein bekannt, dass das, was wir tun, ein Betrug ist. Die meisten Maßnahmen dienen nur dazu, die Ogoni-Bevölkerung zu täuschen.“ Laut seinen Aussagen sei das Projekt vor allem dazu da, „mehr Geld in den Topf zu werfen, das schließlich in den Taschen von Politikern und Machthabern landet.“
Zu den Vorwürfen gehören:
- Auftragsvergabe an Firmen ohne relevante Erfahrung
- Gefälschte Laborberichte, in denen verschmutzter Boden und kontaminiertes Wasser als sauber deklariert wurden
- Aufgeblähte Projektkosten
- Behinderung von externen Prüfern, die den Fortschritt der Säuberungsarbeiten überprüfen wollten
In Protokollen eines Treffens aus dem Jahr 2023, an dem Vertreter von Shells nigerianischer Tochtergesellschaft, der UNEP (Umweltprogramm der Vereinten Nationen) und der Hydrocarbon Pollution Remediation Project (Hyprep) teilnahmen, wurde darauf hingewiesen, dass „inkompetente“ Auftragnehmer erneut engagiert wurden und damit die Umwelt weiter geschädigt werde.
Shells Reaktion: Die Schuld liegt bei Sabotage und Öl-Diebstahl
Shell hat die Vorwürfe zurückgewiesen und erklärt, dass illegale Aktivitäten wie Öldiebstahl und Sabotage im Nigerdelta die größten Herausforderungen darstellen. „Wenn Verschmutzungen von unseren Anlagen ausgehen, reinigen und sanieren wir die Gebiete, unabhängig von der Ursache. Handelt es sich um betriebliche Lecks, entschädigen wir die betroffenen Personen und Gemeinden“, so Shell in einer Stellungnahme gegenüber der BBC.
Trotzdem belegen interne Dokumente der BBC, dass Shell über die Missstände bei Hyprep informiert war. In einem Treffen mit dem britischen Hochkommissar in Nigeria im Januar des Vorjahres räumten Shell-Vertreter die „institutionellen Herausforderungen“ bei der Reinigungsagentur ein und deuteten an, dass möglicherweise eine weitere Finanzierung verweigert werden könnte.
Verheerende Folgen für die Bevölkerung
Für die Menschen in Ogoniland hat das Scheitern des Reinigungsprojekts dramatische Folgen. Viele Gemeinden sind nach wie vor ohne sauberes Trinkwasser, die Landwirtschaft ist durch kontaminierten Boden stark eingeschränkt, und das Fischen – einst die wichtigste Einkommensquelle der Region – ist kaum noch möglich.
Paulina Agbekpekpe, eine Bewohnerin von Bodo in Ogoniland, berichtet von den drastischen Veränderungen in ihrer Heimat. „Früher war das Land grün, die Flüsse waren voll mit Fischen. Doch seit den Ölverschmutzungen ist alles verseucht.“ Sie verlor acht ihrer Kinder durch krankheitsverseuchtes Wasser, ihr Ehemann ist ebenfalls schwer erkrankt. „Die Menschen hier hungern und leiden“, sagt die sechsfache Mutter.
Auch Grace Audi aus Ogale in Rivers State schildert ähnliche Erfahrungen. Ihre Familie hat nur Zugang zu einem kontaminierten Brunnen und muss sauberes Wasser für den täglichen Bedarf kaufen – ein erheblicher Kostenfaktor in einer Region, in der der durchschnittliche Tageslohn unter acht Dollar liegt.
Gerichtsverfahren gegen Shell in London
Die Vorwürfe gegen Shell kommen zu einem heiklen Zeitpunkt, da in London ein Zivilprozess gegen das Unternehmen bevorsteht. Anwälte, die etwa 50.000 Einwohner von zwei Ogoniland-Gemeinden vertreten, werden argumentieren, dass Shell für Ölverschmutzungen zwischen 1989 und 2020 verantwortlich ist, die angeblich von der Infrastruktur des Unternehmens ausgingen. Die Kläger fordern Entschädigungen, da die Ölverschmutzungen sie ihrer Lebensgrundlagen beraubt und ihre Gesundheit gefährdet haben.
Shell weist jegliches Fehlverhalten zurück und argumentiert, dass die meisten Verschmutzungen auf Sabotage und illegalen Öldiebstahl zurückzuführen seien. Das Unternehmen bereitet sich darauf vor, sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen.
UN-Bericht: Die Reinigung könnte Jahrzehnte dauern
Bereits 2011 veröffentlichte das UN-Umweltprogramm (UNEP) eine umfassende Studie über die Umweltverschmutzung in Ogoniland. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass die Sanierung der Region 25 bis 30 Jahre dauern könnte. Die Untersuchung ergab, dass Trinkwasser in der Region mit Benzol, einem bekannten krebserregenden Stoff, in Konzentrationen verseucht war, die das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene Maß um das 900-Fache überstiegen. Zudem wurde festgestellt, dass von Shell sanierte Gebiete weiterhin hochgradig kontaminiert waren und die angewandten Reinigungstechniken nicht den regulatorischen Standards entsprachen.
Zukunft der Region ungewiss
Während Shell sich darauf vorbereitet, seine nigerianische Tochtergesellschaft SPDC an das Konsortium Renaissance Africa zu verkaufen, fürchten viele Bewohner, dass das Unternehmen sich aus der Verantwortung stiehlt. Sie befürchten, dass Shell weiterhin von den Ölvorkommen profitieren wird, während die Region und ihre Menschen mit den Folgen der Umweltkatastrophe allein gelassen werden.
Für die Menschen im Nigerdelta bleibt die Frage offen, ob sie jemals die Gerechtigkeit und Entschädigung erhalten werden, die sie verdienen. Das Gerichtsverfahren in London könnte ein erster Schritt sein, um den Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Doch bis dahin bleibt die Zukunft der Region und ihrer Bewohner von Unsicherheit und Leid geprägt.