Redaktion: Frau Bontschev, die DEGAG Deutsche Grundbesitz Holding AG hat in ihrem Jahresabschluss für 2022 ein Eigenkapital von fast 194 Millionen Euro ausgewiesen. Das klingt beeindruckend, aber Genussrechte machen den größten Teil davon aus. Wie bewerten Sie das?
Kerstin Bontschev: Das ist auf den ersten Blick tatsächlich beeindruckend, doch die Zahlen sind trügerisch. Genussrechte werden in der Bilanz als Eigenkapital ausgewiesen, weil sie nach handelsrechtlichen Regeln als eigenkapitalähnliches Finanzinstrument gelten. Allerdings unterscheiden sie sich fundamental von echtem Eigenkapital. Genussrechte sind Fremdkapital, das Anleger dem Unternehmen zur Verfügung stellen. Im Falle finanzieller Probleme oder einer Krise stehen diese Rechte allerdings „im Feuer“, wie man so sagt – und das bedeutet, dass sie faktisch wertlos werden können.
Redaktion: Was bedeutet das konkret für die Anleger?
Kerstin Bontschev: Anleger, die Genussrechte gezeichnet haben, tragen ein sehr hohes Risiko. Anders als klassische Aktionäre, die Miteigentümer eines Unternehmens sind, oder Gläubiger, die rechtlich abgesicherte Ansprüche haben, stehen Genussrechte im Insolvenzfall oft ganz unten in der Rangfolge. Das heißt: Wenn das Unternehmen in Zahlungsschwierigkeiten gerät oder Verluste schreibt, können die Genussrechte massiv an Wert verlieren – im schlimmsten Fall bleibt den Anlegern nur noch 1 Euro.
In der aktuellen wirtschaftlichen Lage der DEGAG, die unter einer angespannten Finanz- und Marktsituation leidet, müssten diese Genussrechte realistisch betrachtet schon jetzt mit Vorsicht bewertet werden. Man kann sie nicht mit „echtem“ Eigenkapital gleichsetzen.
Redaktion: In der Bilanz wird das Genussrechtskapital mit über 195 Millionen Euro ausgewiesen. Was sagt das über die tatsächliche finanzielle Lage der DEGAG aus?
Kerstin Bontschev: Wenn man das Genussrechtskapital aus der Bilanz herausnimmt oder zumindest deutlich abwertet – denn sein tatsächlicher Wert ist momentan unklar –, sieht die finanzielle Lage der DEGAG ganz anders aus. Ohne die Genussrechte wäre das ausgewiesene Eigenkapital der DEGAG quasi nicht mehr existent, und die Bilanz würde auf sehr wackeligen Beinen stehen.
Hinzu kommt, dass das Unternehmen nur einen Kassenbestand von rund 320.000 Euro ausweist – bei Verbindlichkeiten von über 18 Millionen Euro. Das zeigt, dass die Liquidität äußerst angespannt ist. Kurz gesagt: Die Bilanz wirkt nur deshalb solide, weil die Genussrechte als Eigenkapital ausgewiesen werden. Das sollte Anleger sehr nachdenklich stimmen.
Redaktion: Die DEGAG hat in der Vergangenheit stark mit ihrer langfristigen Strategie und angeblichen Krisenfestigkeit geworben. Wie passt das zu den aktuellen Zahlen?
Kerstin Bontschev: Die Außendarstellung der DEGAG steht in einem deutlichen Widerspruch zu ihrer Bilanz. Natürlich klingt es für Anleger gut, wenn ein Unternehmen betont, dass es langfristig denkt und nicht von kurzfristigen Marktschwankungen beeinflusst wird. Aber die Realität ist, dass auch Wohnungsbestandshalter wie die DEGAG nicht immun gegen die aktuellen Herausforderungen der Immobilienbranche sind.
Steigende Zinsen, hohe Baukosten und eine angespannte Marktnachfrage setzen allen Akteuren zu. Die Bilanz zeigt deutlich, dass die DEGAG diese wirtschaftlichen Belastungen nicht vollständig abfangen kann. Aussagen wie „wir sind kaum von Zinserhöhungen betroffen“ wirken in diesem Kontext eher wie Marketingstrategien als wie eine realistische Einschätzung.
Redaktion: Was würden Sie Genussrechtsanlegern raten, die in die DEGAG investiert haben?
Kerstin Bontschev: Mein Rat wäre, die Situation sehr kritisch zu hinterfragen und die eigenen Optionen genau zu prüfen. Anleger sollten sich darüber im Klaren sein, dass Genussrechte ein hochriskantes Investment sind, das im Ernstfall schnell entwertet werden kann. Es ist ratsam, die finanzielle Lage der DEGAG weiter genau zu beobachten.
Falls es Anzeichen für größere Zahlungsschwierigkeiten gibt, sollten Anleger rechtzeitig handeln und sich anwaltlich beraten lassen. Insbesondere bei Genussrechten besteht die Gefahr, dass man im Insolvenzfall oder bei einer finanziellen Restrukturierung leer ausgeht.
Redaktion: Gibt es in der Bilanz noch weitere Punkte, die Anleger stutzig machen sollten?
Kerstin Bontschev: Ja, die niedrige Liquidität ist ein großes Warnsignal. Ein Kassenbestand von nur 320.000 Euro bei über 213 Millionen Euro Bilanzsumme und 18,5 Millionen Euro Verbindlichkeiten zeigt, dass die DEGAG kaum finanziellen Spielraum hat, um kurzfristige Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen.
Hinzu kommt der Jahresfehlbetrag von über 2 Millionen Euro. Obwohl die DEGAG mit Mietsteigerungen wirbt, scheint es nicht zu gelingen, profitabel zu wirtschaften. Auch die Rückstellungen in Höhe von rund 1,3 Millionen Euro deuten auf potenzielle Risiken hin, die Anleger nicht ignorieren sollten.
Redaktion: Die DEGAG hat stark auf Genussrechte gesetzt, um Kapital aufzunehmen. War das eine gute Strategie?
Kerstin Bontschev: Genussrechte sind für Unternehmen eine schnelle Möglichkeit, Kapital zu beschaffen, ohne klassisches Fremdkapital aufzunehmen. Allerdings gehen sie mit einer hohen Verantwortung gegenüber den Anlegern einher. Unternehmen, die stark auf Genussrechte setzen, müssen sich darüber im Klaren sein, dass diese Kapitalgeber in Krisenzeiten besonders exponiert sind.
Die Strategie der DEGAG, Genussrechte in einem solch großen Umfang zu nutzen, birgt erhebliche Risiken – sowohl für das Unternehmen als auch für die Anleger. Angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage hätte das Unternehmen womöglich konservativer agieren und stärker auf finanzielle Stabilität setzen sollen.
Redaktion: Ihr abschließender Rat für Anleger?
Kerstin Bontschev: Mein Rat an Genussrechtsanleger lautet: Seien Sie wachsam und kritisch. Lassen Sie sich nicht von Hochglanzprospekten oder vollmundigen Versprechen blenden. Schauen Sie sich die Bilanz eines Unternehmens genau an, bevor Sie investieren, und hinterfragen Sie, wie „stabil“ das ausgewiesene Eigenkapital wirklich ist.
Wenn Sie bereits investiert haben, behalten Sie die finanzielle Entwicklung des Unternehmens im Blick und ziehen Sie bei Unsicherheiten rechtzeitig eine anwaltliche Beratung in Betracht. Genussrechte können hohe Renditen versprechen, aber sie sind auch ein Hochrisikoinvestment – und im Ernstfall können Anleger ihren Einsatz verlieren.
Redaktion: Vielen Dank für das Gespräch, Frau Bontschev!
Kerstin Bontschev: Sehr gern.