Moderator: Frau Bontschev, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für dieses Gespräch nehmen. Die DEGAG-Gruppe steht aufgrund ihrer Bilanzen und der extrem hohen Vertriebskosten in der Kritik. Sie vertreten die Ansicht, dass Anleger, hätten sie die Bilanzen gekannt, ihr Kapital nicht investiert hätten. Können Sie uns Ihre Einschätzung schildern?
Kerstin Bontschev: Vielen Dank für die Einladung. In der Tat halte ich es für höchst unwahrscheinlich, dass viele Anleger sich für ein Investment in die DEGAG-Gruppe entschieden hätten, wenn sie die tatsächliche wirtschaftliche Lage der Gesellschaften und insbesondere die enormen Vertriebskosten gekannt hätten. Die Bilanzen, die ab Mitte 2022 öffentlich zugänglich waren, offenbaren eine strukturelle Schieflage, die sich aus den hohen Vertriebskosten, der dünnen Kapitalausstattung und der kontinuierlichen bilanziellen Überschuldung ergibt. Für viele Anleger wäre das ein klares Warnsignal gewesen.
Moderator: Sie haben erwähnt, dass die Vermittler ab Mitte 2022 ebenfalls Zugang zu den Bilanzen hatten. Welche Verantwortung hatten die Vermittler in diesem Zusammenhang?
Kerstin Bontschev: Die Vermittler hatten eine ganz zentrale Verantwortung. Sobald die Bilanzen öffentlich zugänglich waren, hätten sie diese prüfen und ihre potenziellen Kunden umfassend darüber aufklären müssen. Die wirtschaftliche Lage der Gesellschaften und die extrem hohen Vertriebskosten waren ein wesentliches Risiko für die Anleger. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind Vermittler dazu verpflichtet, über alle wesentlichen Umstände eines Investments aufzuklären, die für die Anlageentscheidung relevant sind.
Im Fall der DEGAG-Gesellschaften sehe ich eine klare Verletzung dieser Pflicht, wenn Vermittler trotz Kenntnis der Bilanzen und der darin offengelegten hohen Vertriebskosten keine umfassenden Hinweise auf die wirtschaftlichen Risiken gegeben haben. Die Vermittler durften diese Informationen nicht ignorieren.
Moderator: Können Sie konkretisieren, welche Punkte aus den Bilanzen für Anleger besonders problematisch gewesen wären?
Kerstin Bontschev: Natürlich. Die Bilanzen zeigen mehrere problematische Aspekte. Erstens die hohen Vertriebskosten, die in den Jahresabschlüssen teilweise einen erheblichen Anteil der Erträge aufzehren – bei einigen Gesellschaften bis zu 70 Prozent. Diese Mittel fließen nicht in die angekündigten Investitionen, sondern in die Taschen der Vermittler und Vertriebsorganisationen. Das schränkt die Rentabilität der Investments massiv ein.
Zweitens fällt auf, dass viele Gesellschaften bilanziell überschuldet sind. Das bedeutet, dass die Verbindlichkeiten die Vermögenswerte übersteigen. Für Anleger hätte dies ein klares Warnsignal sein müssen, da es die Rückzahlung ihrer Investitionen infrage stellt.
Und drittens ist das Geschäftsmodell der DEGAG-Gruppe stark von Genussrechten abhängig, die lediglich eine Eigenkapitalähnlichkeit besitzen, aber tatsächlich keine echte Eigenkapitalfunktion erfüllen. Anleger sollten über die Unsicherheiten und die Abhängigkeit von künftigen Mittelzuflüssen durch neue Anlegergelder informiert werden.
Moderator: Hätten die Anleger nach Ihrer Meinung überhaupt die Chance gehabt, die Risiken zu erkennen, wenn sie auf die Vermittler angewiesen waren?
Kerstin Bontschev: Für viele Anleger ist es nahezu unmöglich, die Risiken allein zu erkennen, wenn sie ausschließlich auf die Vermittler angewiesen sind. Das liegt daran, dass viele Vermittler, die Produkte der DEGAG-Gesellschaften angeboten haben, oft nur die positiven Aspekte betont haben, wie zum Beispiel die vermeintlich attraktiven Zinsversprechen.
Die Vermittler haben es meiner Ansicht nach versäumt – oder bewusst unterlassen –, die Anleger auf die hohen Vertriebskosten und die wirtschaftlichen Probleme der Gesellschaften hinzuweisen. Diese Aspekte waren jedoch entscheidend für eine informierte Anlageentscheidung.
Moderator: Glauben Sie, dass diese Unterlassung juristische Konsequenzen für die Vermittler haben könnte?
Kerstin Bontschev: Absolut. Vermittler sind rechtlich verpflichtet, ihre Kunden über alle wesentlichen Risiken eines Investments aufzuklären. Wenn sie Kenntnis von den Bilanzen hatten – und das war ab Mitte 2022 zweifelsfrei der Fall –, hätten sie die Anleger auf die hohen Vertriebskosten und die wirtschaftliche Schieflage der Gesellschaften hinweisen müssen.
Sollte sich herausstellen, dass die Vermittler diese Aufklärungspflicht verletzt haben, könnten sie für entstandene Schäden haftbar gemacht werden. In solchen Fällen haben die betroffenen Anleger gute Chancen, Schadensersatzansprüche gegen die Vermittler geltend zu machen.
Moderator: Was könnten Anleger jetzt tun, die in die DEGAG-Gruppe investiert haben und sich getäuscht fühlen?
Kerstin Bontschev: Ich rate betroffenen Anlegern, ihre Investments genau prüfen zu lassen – insbesondere im Hinblick auf die Aufklärung durch die Vermittler. Wenn Anleger nicht umfassend über die Risiken, die hohe Kostenbelastung und die finanzielle Lage der Gesellschaften informiert wurden, können sie möglicherweise Schadensersatzansprüche geltend machen.
Wichtig ist, dass Anleger die Beratungsgespräche dokumentieren und alle Unterlagen sammeln, die sie von den Vermittlern erhalten haben. Sollten sich darin Lücken oder irreführende Aussagen finden, können diese als Grundlage für juristische Schritte dienen.
Darüber hinaus sollten Anleger auch die Möglichkeit prüfen, Ansprüche direkt gegen die Gesellschaften oder die Konzernmutter geltend zu machen, insbesondere wenn die Mittelverwendung nicht wie versprochen erfolgt ist.
Moderator: Frau Bontschev, halten Sie die DEGAG-Produkte in Anbetracht dieser Vertriebsstrukturen und Kosten überhaupt für geeignet, um Anleger langfristig zufrieden zu stellen?
Kerstin Bontschev: Aus meiner Sicht ist das äußerst fraglich. Die Kombination aus hohen Vertriebskosten, bilanzieller Überschuldung und fehlender Transparenz macht die Produkte der DEGAG-Gruppe für viele Anleger zu einem sehr riskanten Investment. Viele dieser Anleger sind sicherheitsorientiert und haben auf die Versprechen der Vermittler vertraut. Dieses Vertrauen wurde – zumindest in einigen Fällen – meiner Meinung nach missbraucht.
Langfristig sehe ich keine Basis, auf der diese Produkte nachhaltig Erfolg haben können, wenn ein so großer Teil der Anlegergelder nicht produktiv eingesetzt wird, sondern in Vertriebsprovisionen fließt.
Moderator: Abschließend, Frau Bontschev, was würden Sie Anlegern raten, die aktuell noch unsicher sind, wie sie mit ihrer Investition umgehen sollen?
Kerstin Bontschev: Mein Rat ist, sich dringend rechtlichen Beistand zu suchen und die eigene Anlage genau prüfen zu lassen. Anleger sollten klären, ob sie beim Abschluss des Investments ordnungsgemäß über die Risiken und die wirtschaftliche Lage der DEGAG-Gesellschaften informiert wurden.
Falls Zweifel bestehen, ob der Vermittler korrekt aufgeklärt hat, sollten betroffene Anleger ihre Ansprüche prüfen lassen. Es gibt gute Chancen, zumindest einen Teil des Schadens zurückzufordern, wenn nachweisbar ist, dass die Aufklärungspflichten verletzt wurden.
Moderator: Frau Bontschev, vielen Dank für dieses aufschlussreiche Gespräch.
Kerstin Bontschev: Ich danke Ihnen. Es ist wichtig, dass Anleger informiert werden und ihre Rechte wahrnehmen können.